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Technische Universit¨ at Berlin Fakult¨ at ii Institut f¨ ur Mathematik Prof. Dr. Dirk Ferus Differentialgleichungen ur Ingenieure u ρ Information. ur die erfolgreiche Teilnahme an diesem Modul erhalten Sie 6 Leistungspunkte nach ECTS. Entsprechend erwarten wir von durchschnittlich begabten und vor- gebildeten Studierenden folgenden Arbeitsaufwand: Vorlesung 2h/Woche ¨ Ubung 2h/Woche ausliche Nacharbeit und Hausaufgaben 6h/Woche Klausurvorbereitung 30h Version vom 09.02.2007

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Technische Universitat BerlinFakultat ii • Institut fur Mathematik

Prof. Dr. Dirk Ferus

Differentialgleichungenfur Ingenieure

u

ρ

Information. Fur die erfolgreiche Teilnahme an diesem Modulerhalten Sie

6 Leistungspunkte nach ECTS.

Entsprechend erwarten wir von durchschnittlich begabten und vor-gebildeten Studierenden folgenden Arbeitsaufwand:

Vorlesung 2h/WocheUbung 2h/WocheHausliche Nacharbeit und Hausaufgaben 6h/WocheKlausurvorbereitung 30h

Version vom 09.02.2007

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Inhaltsverzeichnis

1 Einfuhrung 1

1.1 Differentialgleichungen in den Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.2 Erster Blick auf die Mathematik von Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . 2

1.3 Losungen von Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

2 Existenz und Eindeutigkeit von Losungen 8

3 Gewohnliche lineare Differentialgleichungssysteme 11

3.1 Struktur des Losungsraumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

3.2 Der Exponentialansatz (die Eigenwertmethode) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

4 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung 22

4.1 Struktur des Losungsraumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

4.2 Der Exponentialansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

5 Nichtlineare Gleichungen und Erhaltungsgroßen 28

6 Stabilitat 32

7 Laplacetransformation 36

7.1 Definition und grundlegende Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

7.2 Anwendungen der Laplacetransformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

8 Partielle Differentialgleichungen 47

8.1 Separation und Superposition, Anfangswertprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

8.2 Rand-Anfangswert-Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

8.3 Methode der Laplacetransformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

8.4 Ebene-Wellen-Losungen der Wellengleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

8.5 Separation in Zylinder- und Kugelkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

9 Die Besselsche Differentialgleichung 63

10 Gewohnliche Rand- und Eigenwertprobleme 67

10.1 Zur Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

10.1.1 Anfangswertprobleme gegen Randwertprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

10.1.2 Der Nutzen von Orthonormalsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

10.2 Selbstadjungiertheit und Orthogonalitatsrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

10.2.1 Das Sturmsche Randwertproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

10.2.2 Orthogonalitat der Eigenfunktionen (Sturm-Liouville) . . . . . . . . . . . . . 75

10.3 Eigenwerte und die Entwicklung nach Eigenfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

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10.3.1 Die Folge der Eigenwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

10.3.2 Entwicklung nach Eigenfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

11 Anhang 82

11.1 Wiederholung: Eigenwerte und Eigenvektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

11.2 Die Matrix-Exponential-Losung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

11.3 Erhaltungsgroßen: Die Keplerschen Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

11.4 Die Herleitung der Warmeleitungsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

11.5 Ein nicht-lineares Randwertproblem: Der Eulersche Knickstab . . . . . . . . . . . . . 91

11.6 Der Verlauf der Zylinderfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

11.7 Die allgemeine Losung der Besselgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

11.8 Die erzeugende Funktion der ganzzahligen Besselfunktionen . . . . . . . . . . . . . . 102

11.9 Die Legendresche Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

11.9.1 Konstruktion von Losungen fur k > 0 durch Rekursion. . . . . . . . . . . . . 105

11.9.2 Die Legendrepolynome oder Legendrefunktionen 1. Art . . . . . . . . . . . . 106

11.9.3 Funktionsverlauf der Legendrefunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

11.9.4 Entwicklung nach Legendrepolynome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

11.10Die Γ-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

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Literatur

Als Lehrbucher zu dieser Veranstaltung werden empfohlen:

• G. Barwolff, G. Seifert: Hohere Mathematik fur Naturwissenschaftler undIngenieure, Spektrum Akademischer Verlag

• Meyberg, Vachenauer: Hohere Mathematik 1, Springer Verlag

• Boyce, DiPrima: Gewohnliche Differentialgleichungen, Spektrum Akademi-scher Verlag (Sehr ausfuhrliche Erklarungen!)

Farbig unterlegt finden Sie Beispiel aus den Ingenieuranwendungen, oft mit expliziten Hin-weisen auf Ingenieurskripten des Grundstudiums:

Werkstoffe IWerkstoffe und Bauelemente der Elektrotechnik I,Skript TUB, Institut fur Werkstoffe der Elektrotechnik

Werkstoffe IIWerkstoffe und Bauelemente der Elektrotechnik II,Skript TUB, Institut fur Werkstoffe der Elektrotechnik

Regelungstechnik IKing: Regelungstechnik I,Skript TUB

Muller: Mechanik IIW.H. Muller: Mechanik II,Skript TUB SS 2002

Energie-, Impuls- und StofftransportLehrbuch Baehr/Stephan: Warme- und Stoffubertragungzur VL Auracher: Energie-, Impuls- und Stofftransport

Verfahrentechnik IKraume: Verfahrenstechnik I,Skript TUB

Regelung in der Luft- und RaumfahrtK. Wilhelm: Regelung in der Luft und Raumfahrt,Skriptum TUB, SS 2002

Zu einzelnen Veranstaltungen existieren mehrere, vielleicht auch neuere Skripten und Lehr-bucher. Wir begnugen uns meistens mit einem Zitat, auch wenn sich der betreffende Sach-verhalt in der Regel an mehreren Stellen findet.

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1 Einfuhrung

1.1 Differentialgleichungen in den Anwendungen

• Wo in den Anwendungen kommen welche Differentialgleichungen vor?

Ein kraftefreier Massenpunkt bewegt sich nach Newton mit konstanter Geschwindigkeit ~v.Wirkt auf ihn eine Kraft ~F , so bewirkt diese eine zeitliche Anderung der Geschwindigkeit(=Beschleunigung) proportional zur Kraft. Die Geschwindigkeit ~v wird jetzt eine Funktion~v = ~v(t), und es gilt

m~v = ~F . (1)

Dieser so einfach erscheinende Sachverhalt ist fundamental fur unsere Methode, Natur-vorgange und damit technische Vorgange zu modellieren: Die momentanen (infinitesimalen)Anderungen eines Systems werden ”ergrundet“ und beschrieben, um aus ihnen die ”ma-kroskopische“ Entwicklung des Systems zu bestimmen. Durch (triviale) Integration von (1)findet man die Entwicklung der Geschwindigkeit

m~v(t) = t ~F +m~v0.

Wenn allerdings ~F nicht konstant ist, sondern selbst von t oder, wie bei Reibungsphanomenen,auch von ~v abhangt, bekommt man eine kompliziertere Beziehung

m~v(t) = ~F (t, ~v).

Dann wird die Integration schwieriger, oder ~v(t) laßt sich gar nicht mehr durch Integrationfinden. Darauf gehen wir im nachsten Abschnitt ein.

Aufgrund der gerade erklarten fundamentalen erkenntnistheoretischen Methode ist es of-fenbar, dass Differentialgleichungen in den Ingenieurwissenschaften eine prominente Rollespielen.

Die Newtonsche Gleichung ist in allen Bereichen der Dynamik von fundamentaler Bedeu-tung, wie Sie in den Vorlesungen zur Mechanik feststellen werden [MueII, Abschnitt 13 ].

Vor allem gewohnliche lineare Differentialgleichungssysteme sind das Kernstuck der Rege-lungstechnik, vergleichen Sie [Regelungstechnik I ] oder [Regelung in der Luft- und Raum-fahrt ].

Andere Gebiete werden von partiellen Differentialgleichungen bestimmt, also Differential-gleichungen fur Funktionen von mehreren Variablen, deren partielle Ableitungen gewisseGleichungen erfullen.

Die Mathematik der Stromungslehre ist vor allem die Theorie der Navier-Stokes-Gleichung.

Die Schwingungsmechanik beschaftigt sich mit der Wellen- oder Schwingungsgleichung.

Die Verfahrenstechnik und Energietechnik modellieren den Stoff- oder Warmetransportmit Hilfe der Transport-, Diffusions- oder Warmeleitungsgleichung in immer neuen Varian-ten. Vergleichen Sie [Verfahrentechnik I ] oder [Energie-, Impuls- und Stofftransport ].

Etwas zugespitzt formuliert:

Sie haben in den ersten Semestern die Differentialrechnung nur deshalb lernen mussen, weilDifferentialgleichungen fur Ingenieure so ungeheuer wichtig sind.

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1.2 Erster Blick auf die Mathematik von Differentialgleichungen

• Wir klaren die einfachste Terminologie ...

• ... und wir losen die einfachsten Differentialgleichungen.

• Wir prazisieren, was wir unter Losungen verstehen wollen ...

• ... und formulieren einen Existenz- und Eindeutigkeitssatz.

Zur Terminologie:

• Differentialgleichungen sind Gleichungen fur eine gesuchte Funktion, welche Ableitun-gen dieser Funktion involvieren.

• Wenn die Funktion vektorwertig ist, wenn also mehrere Komponentenfunktionen ge-sucht werden, spricht man von einem System von Differentialgleichungen, sonst auchvon skalaren Differentialgleichungen.

• Wenn die Funktion von mehreren Variablen abhangt und partielle Ableitungen auftre-ten, spricht man von partiellen, andernfalls von gewohnlichen Differentialgleichungen.

• Die hochste auftretende Ableitungsordnung der gesuchten Funktion heißt die Ordnungder Differentialgleichung.

Lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung.

Wir beginnen mit einigen Bemerkungen zu Differentialgleichungen 1. Ordnung.

Beispiel 1. Das einfachste Beispiel ist

y′ = f(x)

mit einer Funktion f : [α, β] → R. Die Losungen sind die Stammfunktionen von f , die man(bei stetigem f) durch Integrieren finden kann:

y(x) = y0 +∫ x

α

f(u)du.

Dabei ist y0 eine beliebige Konstante. Sie wird eindeutig bestimmt, wenn man außer derDifferentialgleichung noch eine Anfangsbedingung

y(α) = y0

vorgibt.

Beispiel 2. Das nachste Beispiel ist anders geartet, hier kommt die gesuchte Funktion auchauf der rechten Seite vor:

y′ = ay, a ∈ R.

Das ist leicht zu losen, y(x) := eax ist offenbar eine Losung. Aber es ist nicht die einzige:y(x) = y0 e

a(x−x0) ist auch eine, die uberdies die Anfangsbedingung

y(x0) = y0

erfullt. Sind das nun alle Losungen? In dem Modul Analysis fur Ingenieure wurde gezeigt,dass das wirklich alle Losungen sind.

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Beispiel 3. Wie losen Siey′ = a(x)y (2)

mit einer auf [α, β] stetigen Funktion a? Konnen Sie eine Losung finden, fur die y(α) = y0mit vorgegebenem y0 ist?

Beispiel 4. Wenn Sie das letzte Beispiel geschafft und eine Losung gefunden haben, die wirmal yH(x) nennen wollen, was machen Sie dann mit

y′ = a(x)y + b(x),

wobei a, b : [α, β] → R stetig sind?

Dies ist die allgemeine lineare Differentialgleichung 1. Ordnung. ”Linear“ deshalb, weil diegesuchte Funktion y nur linear darin vorkommt.

Wenn Sie an die Produktregel der Differentiation denken, ist es nicht so abwegig, als Losung

y(x) = A(x)yH(x)

zu versuchen, d.h. den Ansatz y(x) = A(x)yH(x) zu machen. Dann ist namlich

y′(x) = A(x)y′H(x) +A′(x)yH(x)= A(x)a(x)yH(x) +A′(x)yH(x)= a(x)y(x) +A′(x)yH(x).

Wir mussen nur ein A(x) finden, fur das

A′(x)yH(x) = b(x)

ist. Das tut

A(x) = A0 +∫ x

α

b(ξ)yH(ξ)

dξ.

Allerdings darf yH keine Nullstellen haben. Wie steht es damit? (Sie hatten doch (2) gelost!)

Separable Differentialgleichungen

Wir sehen uns noch ein wenig bei (nichtlinearen) Differentialgleichungen erster Ordnung umund behandeln eine Verallgemeinerung des Beispiels 3, namlich Differentialgleichungen derForm

y′ = f(x)g(y).

Wir wollen annehmen, dass die Funktionen rechts stetige Ableitungen haben (”technische“Voraussetzung). Dann hat nach einem allgemeinen Existenz- und Eindeutigkeitssatz (vgl.Abschnitt 2) das Anfangswertproblem

y′ = f(x)g(y), y(x0) = y0,

eine eindeutig bestimmte Losung. Um sie zu finden, betrachten wir

y′(x)g(y(x))

= f(x).

Dazu nehmen wir an, dass g(y0) 6= 0, also g(y) 6= 0 fur kleines |y − y0|.1 Wir integrierenbeide Seiten. Dabei berucksichtigen wir, dass nach der Kettenregel

d

dx

∫ y(x)

y0

1g(η)

dη =1

g(y(x))y′(x).

1Finden Sie die eindeutig bestimmte Losung im Fall g(y0) = 0.

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Damit finden wir ∫ y(x)

y0

1g(η)

dη =∫ x

x0

f(ξ)dξ.

Stellen Sie sich die Integrale gelost vor. Dann ist das eine Gleichung fur y(x) ohne Ableitun-gen. Zu abstrakt? Betrachten Sie folgendes konkrete

Beispiel 5. Wir betrachten

y′ = x(1 + y2), y(0) = 0.

Dann liefert die vorstehende Uberlegung

arctan y(x) =∫ y(x)

0

11 + η2

dη =∫ x

0

ξ dξ =x2

2.

Daraus folgt

y(x) = tan(x2

2).

Beachten Sie, dass die Losung dieses Anfangswertproblems nicht auf ganz R definiert ist,sondern bei x = ±

√π ins Unendliche verschwindet.

Verhaltnismaßig haufig trifft man separable Differentialgleichungen, bei denen f konstantist. Von diesem Typ sind die folgenden Beispiele.

Beispiel 6 (Kettenlinie).Muller: Mechanik I, Abschnitt 4.6.2 oder Ziegler: Mechanik, Abschnitt 21

Die Form eines an zwei Punkten befestigten (homogenen) Seils unter dem Einfluss seines Ei-gengewichtes sei gegeben durch den Graphen einer Funktion y(x), wobei y(0) der Tiefpunktdes Seils sei. In der Mechnik untersucht man die Krafteverhaltnisse in dieser Situation undfindet fur die Ableitung v(x) = y′(x) die Bedingung

v′ =1a

√1 + v2,

mit einer Konstanten a, die durch Seillange und Position der Befestigungspunkte bestimmtist. Das ist eine separable Differentialgleichung, und wir finden

sinh−1 v =x

a+ c1.

Die Voraussetzung uber y(0) bewirkt c1 = 0, also

v(x) = sinhx

a.

Durch nochmalige Integration erhalt man

y(x) = a coshx

a+ c.

Das ist die sogenannte Kettenlinie.

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Beispiel 7 (Logistisches Gesetz). Ein weiteres wichtiges Beispiel liefert das sogenanntelogistische Gesetz von Verhulst fur das Wachstum von Populationen unter Berucksichtigung

”sozialer Konkurrenz“:y = ay − by2.

Wenn die unabhangige Variable die Zeit t ist, bezeichnet man die Ableitung oft mit ystatt mit y′. Ohne Konkurrenz (d.h. bei einer Population, die klein ist im Vergleich zuden zur Verfugung stehenden Resourcen) ist das Wachstum proportional zur vorhandenenPopulation (y = ay). Der Effekt der Konkurrenz ist proportional zur Zahl der Interaktionenzwischen Individuen der Population, also proportional zu y2. Die Separation liefert

1 =y

ay − by2=

1a

y

y+b

a

y

a− by.

Mit der Anfangsbedingung y(t0) = y0 folgt∫ t

t0

du =1a

∫ y

y0

(y

y+

by

a− bv

)dt

und nach Ausfuhren der Integration

t− t0 =1a

(ln

y

a− by− ln

y0a− by0

)Wir finden

ea(t−t0) =y

a− by

a− y0y0

.

Auflosen nach y liefert nach kurzer Rechnung

y(t) =ay0e

a(t−t0)

a− by0 + by0ea(t−t0)=

ay0(a− by0)e−a(t−t0) + by0

.

Daraus sieht man, dass y(t) nach Ablauf einer langen Zeit (man sagt auch asymptotisch),annahernd konstant vom Wert a/b wird:

limt→+∞

y(t) =a

b.

Wenn |t− t0| hingegen ”relativ klein“ ist, hat man

y(t) ≈ y0ea(t−t0),

also ein exponentielles Wachstum. Beide Aspektefugen sich zur Verhulstschen ”S-Kurve“ zusammen.

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Beispiel 8 (Brutbestand des Kormorans in Brandenburg).Das logistische Gesetz modelliert in gewissen Grenzen wirklich uberzeugend reale Populati-onsdynamiken:

1970 1980 1990 2000

2000

4000

6000

8000

10000

12000

Beispiel 9 (Tumorwachstum nach Gompertz). Auch das folgende Wachstumsmodellgeht von einer Proportionalitat der Wachstumsrate zur vorhandenen Menge aus, wobei al-lerdings der Proportionalitatsfaktor nicht konstant ist, sondern selbst exponentiell abnimmt:

y = a e−bty.

Diese Differentialgleichung von Gompertz beschreibtzum Beispiel das Wachstum von Tumoren oder dieAusbreitung von Rostfraß. Die Losung finden Siewieder durch Separation.

Beispiel 10 (Stationare einseitige Diffusion).Verfahrentechnik I, Abschnitt 1

Die Differentialgleichung

meinsAm = − D

TR/MA

p

p− pA(x)dpA(x)dx

fur die Funktion pA(x) beschreibt den stationaren Stofftransport durch Diffusion2.Gesucht sei eine Losung mit der Anfangsbedingungen

pA(0) = p∗A.

Dazu nehmen wir an, dass p > pA und schreiben die Differentialgleichung als

TR/MA

pDmeinsAm︸ ︷︷ ︸

=:α

=(p− pA(x))′

(p− pA(x))=d log(p− pA(x))

dx

Es folgtlog(p− pA(x)) = αx+ β,

alsop− pA(x) = Cebx.

Wahlen wir C = p− p∗A, so stimmt auch die Anfangsbedingung.

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1.3 Losungen von Differentialgleichungen

• Wenn man die Losung einer Differentialgleichung nicht einfach so hinschreiben kann,was dann?

Beispiel 11 (Pendelgleichung).Muller: Mechanik II, Abschnitt 15.2

Der Ausschlagwinkel φ eines (ebenen starren) Pendels erfullt die Differentialgleichung

mLφ = −mg sinφ. (3)

Wenn man nur kleine Ausschlagwinkel betrachtet, istsinφ ≈ φ und man kann die Gleichung linearisieren:

mLφ = −mgφ.

φ

mg

L

Das ist mit dem Exponentialansatz und trigonometrischen Funktionen leicht zu losen, ganzim Gegensatz zur Originalgleichung (3): Fur die konnen Sie aus den Funktionen, die Sie ken-nen, keine Losungsfunktion φ(t) zusammenbasteln, die Gleichung ist nicht mit elementarenFunktionen losbar.

Das kommt nicht uberraschend. Sie kennen diese Situation schon von einem simplen Spezi-alfall der Differentialgleichungstheorie, namlich aus der Integralrechnung. So einfache Funk-tionen wie sin(x2) haben keine elementare Stammfunktion. Und dieser Fall kommt in derPraxis durchaus haufig vor, vor allem, wenn man die partiellen Differentialgleichungen miteinbezieht. Unter diesen Umstanden ist es von besonderer Bedeutung sich uber folgendeFragen Klarheit zu verschaffen:

• Existenz: Gibt es uberhaupt Losungen? (Sonst ist auch ein etwaiges ”Ergebnis“ einesnumerischen Verfahrens bestimmt keine Losung!)

• Eindeutigkeit: Wenn es Losungen gibt, durch welche zusatzlichen Forderungen ist danneine Losung eindeutig bestimmt. Wann konnen wir sicher sein, die ”richtige“ Losunggefunden zu haben?

• Eigenschaften: Welche Eigenschaften haben die Losungen? Ist es moglich daruber In-formationen direkt aus der Differentialgleichung zu gewinnen, auch wenn wir sie nichtexplizit losen konnen?

(Beispiel: Die Losungen von y′ = 1 + y4 sind sicher alle monoton wachsend.)

• Stabilitat: Gleichgewichtslosungen einer Differentialgleichung sind zeitlich konstanteLosungen. Was passiert bei Storungen des Gleichgewichts? Kehrt das System dannwieder in die Gleichgewichtslage zuruck? Solche Fragen sind etwa in der Regelungs-technik von großem Interesse.

• Sensitivitat: Diese Fragestellungen sind verwandt mit denen nach der Stabilitat. ZumBeispiel fur die Anwendung numerischer Verfahren ist es wichtig zu wissen, wie emp-findlich die Losungen auf kleine Storungen der Differentialgleichung (also der Koeffi-zienten) und der zusatzlichen Anfangs- oder Randbedingungen reagieren.

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2 Existenz und Eindeutigkeit von Losungen

• Wir lernen, warum man im Prinzip nur Differentialgleichungen 1. Ordnung untersuchenmuss.

• Wir lernen den grundlegenden Satz uber die Existenz und Eindeutigkeit von Losungenkennen.

Beispiel 12 (Newtonsche Bewegungsgleichung, Phasenraum).Muller: Mechanik II, Abschnitt 12.2

Die Gleichung fur die Bewegung eines Massenpunktes an der Stelle ~y(t) unter dem Einflußeiner von Zeit und Ort abhangigen Kraft ~F (t, ~y) ist

m~y = ~F (t, ~y).

Das ist also ein 3-dimensionales System 2. Ordnung.Definieren wir den Impuls durch ~p := m~y, so erhalten wir ein 6-dimensionales System 1. Ord-nung:

~y =1m~p

~p = ~F (t, ~y).

Mit den Abkurzungen

~x(t) :=(

~y(t)~p(t)

), ~G(t, ~x) :=

(1m

~p~F (t, ~y)

)schreibt sich das als ~x = ~G(t, ~x).

Offensichtlich kann man diesen Trick auf jede Differentialgleichung hoherer Ordnung anwen-den. Wir halten fest:

Jede Differentialgleichung hoherer Ordnung laßt sich durch Einfuhren neuer abhangiger Va-riablen umschreiben in ein (hoher-dimensionales) System 1. Ordnung der Form

~x = ~G(t, ~x). (4)

Definition 13 (Dynamisches System, Phasenraum). Wegen der Beziehung zum New-

tonschen Problem nennt man Differentialgleichungssysteme 1. Ordnung auch dynamischeSysteme. Den von den Orts- und Impulskoordianten gebildeten 6-dimensionalen Raum undallgemeiner den Raum der ~x in (4) nennt man auch den Phasenraum des dynamischen Sy-stems. Die Losungen, also die Kurven ~x(t) heißen auch die Phasenkurven oder Phasenbahnen.Im Newtonschen Beispiel bekommt man daraus die Bahnkurve des Massenpunktes, indemman die letzten drei Komponenten von ~x(t), die sogenannten Impulskoordinaten ”vergisst“.

Definition 14 (Autonomes System). Ein Differentialgleichungssystem der Form

~x = ~G(~x), (5)

bei dem die rechte Seite nicht explizit von t abhangt, heißt ein autonomes System.

Beispiel 15. Jedes dynamische System ~x = ~F (t, ~x) laßt sich als autonomes System um-schreiben, indem man die unabhangige Variable t auch als gesuchte Funktion betrachtet:

d

dt

(t~x

)=(

1~F (t, ~x)

).

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Beispiel 16 (Phasendiagramm).

Insbesondere fur zweidimensiona-le autonome Systeme lassen sichdie Phasenkurven graphisch darstel-len in einem sogenannten Phasen-diagramm. Man kann sich (5) alsein Vektorfeld ~G(~x) vorstellen, etwadas (stationare) Stromungsfeld einerFlussigkeit, zu dem man die Flußli-nien sucht.

Konstruktion einer Losung. Nun zur Frage nach der Existenz von Losungen. Wir be-schranken uns wegen Beispiel 15 auf ein autonomes Anfangswertproblem

~x = ~G(~x), ~x(t0) = ~x0. (6)

Wenn ~G konstant ist, bekommen wir durch

~x(t) = ~x0 + (t− t0)~G

eine Losung. Diese ist ein Streckenzug.

Wenn ~G nicht konstant, aber stetig ist, konnen wir uns vorstellen, dass G wenigstens immer

”ein Stuck weit“ konstant ist, und konnen dann die Losung (von der wir noch gar nichtwissen, ob sie existiert!) ein Stuck weit geradlinig ”approximieren“. Genauer betrachten wireine Zeitsequenz

t0 < t1 = t0 + h < t2 = t0 + 2h < . . . tN = t0 +Nh

mit positiver Schrittweite h > 0. Damit definieren wir rekursiv

~x(h, t0) := ~x0,

~x(h, t) := ~x(h, ti) + (t− ti)~G(~x(h, ti)), ti < t ≤ ti+1.

~xh(t) ist dann also ein Polygonzug, und dieses Verfahren heißt das Eulersche Polygonzug-verfahren oder kurz Eulerverfahren.

Beispiel 17. Die Differentialgleichung

y′ = −xy

schreiben wir als autonomes System

d

dx

(xy

)=(

1−xy

).

Wir wahlen y(0) = 1, also (x(0)y(0)

)=(

01

)als Anfangsbedingung. Die beiden folgenden Abbildungen zeigen die Ergebnisse des Eu-

lerverfahren mit verschiedener Schrittweite im Vergleich mit der exakten Losung

y(x) = e−x2/2.

9

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0.5 1 1.5 2

0.2

0.4

0.6

0.8

1

n=4

0.5 1 1.5 2

0.2

0.4

0.6

0.8

1

n=10

Man kann nun fur ”halbwegs anstandiges“ ~G beweisen:

• Wenigstens fur t-Werte nah bei t0, also auf einem Intervall [t0, t0 + ε[ exisitiert derGrenzwert

~x(t) := limh↘0

~x(h, t) (7)

und definiert eine Losung des Anfangswertproblems

~x = ~G(~x), ~x(t0) = ~x0.

• Je zwei Losungen dieses Anfangsproblems sind gleich, jedenfalls auf dem Durchschnittihrer Definitionsintervalle.

Wir prazisieren das in einem Satz, der auch fur den nicht-autonomen Fall gilt.

Satz 18 (Existenz- und Eindeutigkeitssatz). Sei ~G(t, ~x) auf einer offenen MengeU ⊂ R × Rn stetig differenzierbar3und (t0, ~x0) ∈ U ein Punkt dieser Menge. Dann istdas Anfangswertproblem

~x = ~G(t, ~x), ~x(t0) = ~x0. (8)

eindeutig losbar. Genauer gilt:

(i) Es gibt ein Intervall J mit t0 ∈ J , so dass das Anfangswertproblem (8) auf J eineLosung ~x(t) hat, wobei

(t, ~x(t)) ∈ U fur alle t ∈ J.

(ii) Jede weitere Losung von (8) auf einem Intervall um t0 mit dieser Eigenschaft ist dieBeschrankung der Losung aus (i) auf ein Teilintervall von J .

Die Losung in (i) ist also eine eindeutig bestimmte maximale Losung.

Numerische Verfahren. Die Konvergenz fur gegen 0 konvergierende Schrittweite wirdim vorangehenden Beispiel glaubhaft vermittelt. Dennoch hat das Eulersche Polygonzug-verfahren als numerisches Verfahren gewisse Schwachen, zum Beispiel bezuglich der Kon-vergenzgeschwindigkeit oder der Stabilitat gegenuber Rundungsfehlern. Softwarepakete zurnumerischen Losung von Differentialgleichungen benutzen deshalb Weiterentwicklungen desEulerschen Verfahrens, insbesondere das sogenannte Runge-Kutta-Verfahren, vgl. den ModulNumerik I fur Ingenieure.

3Die Voraussetzung der stetigen Differenzierbarkeit kann wesentlich abgeschwacht werden. Zum Beispielgenugt es, wenn G stetig und nach den x-Komponenten stetig differenzierbar ist.

10

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3 Gewohnliche lineare Differentialgleichungssysteme

Wir untersuchen gekoppelte Systeme aus mehreren linearen Differentialgleichungen der Form

x′1 = a11(t)x1 +a12(t)x2 + . . . +a1n(t)xn +b1(t)x′2 = a21(t)x1 +a22(t)x2 + . . . +a2n(t)xn +b2(t)

. . .x′n = an1(t)x1 +am2(t)x2 + . . . +ann(t)xn +bn(t)

(9)

mit stetigen Funktionen aij und bi auf einem Intervall I ⊂ R. Die t-Ableitung bezeichnenwir in Zukunft wegen bequemerer Notation mit einem Strich statt mit einem Punkt.

Mit Matrizen schreibt sich das kurz als

~x′ = A(t)~x+~b(t). (10)

Solche Systeme kommen in der Praxis sehr haufig vor, nicht zuletzt deshalb, weil man uberihre Losungen eine Menge weiß, und deshalb bei der Modellierung physikalische Problemegern so lange vereinfacht, bis sie sich durch lineare Systeme beschreiben lassen. Naturlichist das in der Regel nur eine erste Annaherung an die realen Verhaltnisse.

Wir fragen also, wie die Losungsmenge von (9)/(10) aussieht, und ob und wie man Losungenexplizit finden kann.

Ist ~b(t) = 0, so nennt man das System homogen, andernfalls inhomogen. Zu jedem inhomo-genen System gehort ein homogenes, bei dem einfach ~b(t) durch 0 ersetzt ist.

Warnung. Genauso wie bei gewohnlichen linearen Gleichungssystemen hat man auch beiDifferentialgleichungssystemen ein kleines Problem mit der Bezeichnung: Eine Losung von(9)/(10) ist eine vektorwertige Funktion

~x(t) =

x1(t)...

xn(t)

mit den Komponentenfunktionen x1(t), . . . , xn(t). Wenn man dagegen verschiedene Losun-gen von (9) oder (10) betrachtet, bezeichnet man die gern als ~x1, ~x2, . . .. Jetzt numeriert derIndex also verschiedene Losungen und nicht verschiedene Komponenten ein und derselbenLosung. Die Komponenten von ~x1 bezeichnen wir, wenn es notig ist, mit x11(t), . . . , xn1(t).Der zweite Index soll dann die Losungen, der erste die Komponenten numerieren:

~xj(t) =

x1j(t)...

xnj(t)

.Schreibt man mehrere Losungen in eine Matrix, so stehen sie dort also als Spalten.

11

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3.1 Struktur des Losungsraumes

• Lineare Differentialgleichungen besitzen eine starke Analogie zur linearen Gleichungs-systemen und wie diese einen sehr einfach strukturierten Losungsraum.

• Wir lernen einen Test auf lineare Unabhangigkeit von (Losungs)funktionen kennen.

• Wir lernen ein Verfahren zur Losung einer inhomogenen linearen DGL, wenn die zu-gehorige homogene Gleichung gelost ist.

Der Existenz- und Eindeutigkeitssatz, der Satz 18, garantiert die eindeutige Losbarkeit desAnfangswertproblems, ohne etwas daruber zu sagen, wie lange die Losung lebt: Auf einemIntervall um t0 herum eben, aber es ist unklar, wie groß das ist, vgl. Beispiel 5.

Ganz anders bei linearen Differentialgleichungen. Dort leben die Losung ”so weit wie dieDifferentialgleichung“:

Satz 19 (Existenz und Eindeutigkeitssatz). Haben A(t) und ~b(t) auf dem Intervall Istetige Koeffizienten aij(t) und bi(t) und ist t0 ∈ I, so hat das Anfangswertproblem

~x′ = A(t)~x+~b(t) (11)~x(t0) = ~η0 (12)

fur jedes ~η0 =

η10

...ηn0

genau eine auf ganz I definierte Losung.

Weil alle Losungen auf demselben Intervall definiert sind, kann man auch uber Linearkom-binationen von Losungen reden, und es gilt:

Satz 20 (Losungsraum der homogenen Gleichung). Der Losungsraum der homogenenGleichung

~x′ = A(t)~x. (13)

ist ein Vektorraum der Dimension n. Das heißt:

• Linearkombinationen von Losungen sind wieder Losungen: Es gilt das Superpositions-prinzip.

• Es gibt n linear unabhangige Losungen.

• Sind die Losungen ~x1(t), . . . , ~xn(t) linear unabhangig, so ist jede andere Losung eineLinearkombiantion von diesen:

~x(t) = c1~x1(t) + . . .+ cn~xn(t) (14)

Man nennt ~x1(t), . . . , ~xn(t) eine Losungsbasis oder ein Fundamentalsystem von Losun-gen und (14) ”die allgemeine Losung von (13)“.

Die Vorgabe eines Anfangswertes ~x(t0) = ~η0 bestimmt die Koeffizienten ci in der allgemeinenLosung eindeutig.

12

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Lineare Unabhangigkeit: Wronskitest. Wir betrachten Losungen ~x1(t), . . . , ~xn(t) von(13) und wollen wissen, ob sie linear unabhangig sind. Sind zunachst die Vektoren

~x1(t0), . . . , ~xn(t0)

an einer Stelle t0 linear unabhangig, so sind ~x1(t), . . . , ~xn(t) als Funktionen linear un-abhangig:

Aus

λ1~x1(t) + . . .+ λn~xn(t) = ~0

fur alle t folgt namlich insbesondere

λ1~x1(t0) + . . .+ λn~xn(t0) = ~0.

Weil diese Vektoren linear unabhangig sind, ist λ1 = . . . = λn = 0.

Aus dem Eindeutigkeitssatz fur das Anfangswertproblem folgt fur Losungen von (13) auchdie Umkehrung. Daher sind die Losungen ~x1(t), . . . , ~xn(t) genau dann linear unabhangig,wenn die Funktionswerte ~x1(t0), . . . , ~xn(t0) an einer Stelle (und dann an jeder Stelle) linearunabhangig sind. Also sind die Losungen ~x1(t), . . . , ~xn(t) genau dann linear unabhangig,wenn die aus ihnen gebildete Matrix

W = (~x1(t), . . . , ~xn(t)),

die sogenannte Wronskimatrix, an einer und dann an jeder Stelle t vollen Rang = n bzw.Determinante 6= 0 besitzt.

Machen Sie sich klar, warum Linearkombinationen von Losungen des inhomogenen Systemsim allgemeinen keine Losungen liefern. Und rechnen Sie nach, dass wenn ~x1(t) und ~x2(t)zwei Losungen des inhomogenen Systems sind, dass dann x(t) = ~x1(t)−~x2(t) das zugehorigehomogene System lost. Dann haben Sie bewiesen:

Satz 21 (Losungsraum des inhomogenen Systems). Sei ~xP (t) eine Losung der inho-mogenen Gleichung

~x′ = A(t)~x+~b(t). (15)

Man nennt das auch eine partikulare oder spezielle Losung von (15). Dann findet man alleLosungen von (15), indem man zu ~xP alle Losungen ~xH der homogenen Gleichung (13)addiert. Man sagt,

~x = ~xP + ~xH

ist die allgemeine Losung von (15), wenn ~xH die allgemeine Losung von (13) ist.Ist ~x1, . . . , ~xn eine Losungsbasis fur die homogene Gleichung, so ist also die Menge derLosungen der inhomogenen Gleichung gegeben durch

~x = ~xP + c1~x1 + . . .+ cn~xn

mit beliebigen Konstanten c1, . . . , cn.

Damit ist die Struktur des Losungsraumes linearer Differentialgleichungssysteme geklart.Bleibt die Frage, wie man Losungen von (15) finden kann. Wir erklaren im nachsten Ab-schnitt, wie man bei konstanter Systemmatrix A und ~b(t) = ~0 vorgeht, um eine Losungsbasis

13

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fur das homogene System zu finden. Wenn man die hat, gibt es (auch bei variabler MatrixA) ein Verfahren zur Bestimmung einer partikularen Losung des inhomogenen Systems:

Satz 22 (Variation der Konstanten). Sei ~x1, . . . , ~xn eine Losungsbasis der homogenenGleichung (13). Mit der Wronskimatrix der ~xi bilde man das lineare Gleichungssystem

x11 . . . x1n

x21 . . . x2n

. . .xn1 . . . xnn

c′1c′2...

c′n

=

b1b2...

bn

. (16)

Die (eindeutig bestimmten) Losungsfunktionen c′i integriere man. Dann erhalt man mit

~xP (t) = c1(t)~x1(t) + . . . cn(t)~xn(t)

eine partikulare Losung der inhomogenen Gleichung (11).

Beweis. Wir machen den Ansatz ~x(t) = ~xP (t) = c1(t)~x1(t) + . . . cn(t)~xn(t) und setzen diesin das Differentialgleichungssystem ein. Zunachst berechnen wir

~x′(t) = c1(t)~x′1(t) + . . . cn(t)~x′n(t) + c′1(t)~x1(t) + . . . c′n(t)~xn(t)= c1(t)A(t)~x1(t) + . . . cn(t)A(t)~xn(t) + c′1(t)~x1(t) + . . . c′n(t)~xn(t)= A(t)(c1(t)~x1(t) + . . . cn(t)~xn(t)) + c′1(t)~x1(t) + . . . c′n(t)~xn(t)= A(t)~x(t) + c′1(t)~x1(t) + . . . c′n(t)~xn(t).

Also ist ~x(t) genau dann eine Losung des inhomogenen Systems (11), wenn

c′1(t)~x1(t) + . . .+ c′n(t)~xn(t) = ~b(t).

In Matrixschreibweise ist das aber gerade (16).

Beispiel 23. Gegeben sei das Gleichungssystem

x′1 = x1+ 3x2+ 2 cos2 tx′2 = 3x1+ x2+ 2 sin2 t

(17)

Losung des zugehorigen homogenen Systems. Das zugehorige homogene System hat folgen-de Losungsbasis

~x1(t) =(

e4t

e4t

), ~x2(t) =

(e−2t

−e−2t

).

Wie wir die gefunden haben, erklaren wir spater.

Variation der Konstanten. Wir machen den Ansatz ~xP (t) = c1(t)~x1(t)+c2(t)~x2(t) und losen(e4t e−2t

e4t −e−2t

)(c′1c′2

)=(

2 cos2 t2 sin2 t

).

Wir finden

c′1(t) = e−4t, c′2(t) = (cos2 t− sin2 t)e2t = cos 2t e2t.

Nun mussen wir die c′j(t) integrieren:

c1(t) = −14e−4t, c2(t) =

14

(sin 2t+ cos 2t)e2t.

14

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Einsetzen in den Ansatz liefert

~xP (t) = −14e−4t

(e4t

e4t

)+

14

(sin 2t+ cos 2t)e2t(

e−2x

−e−2t

)=(

14(sin 2t + cos 2t− 1)

− 14(sin 2t + cos 2t + 1)

)als eine spezielle Losung von (17).

Eine andere ”Methode“, um eine partikulare Losung zu finden, ist das

Erraten einer Losung. Wir wollen hier nur folgenden Fall betrachten:

~x′ = A~x− eµt~b (18)

mit konstanten A und ~b. Der Parameter µ kann reell oder auch komplex sein, so dass derFall einer “trigonometrischen“ rechten Seite mit erfaßt ist. Wir machen den Ansatz

~x(t) = eµt~v (19)

mit einem konstanten Vektor ~v. Einsetzen liefert

µ eµt~v = eµtA~v − eµt~b

oder

A~v − µ~v = ~b.

Das sieht in Komponenten so aus:

(a11 − µ)v1+ a12v2+ . . .+ a1nvn = b1a21v1+ (a22 − µ)v2+ . . .+ a2nvn = b2

. . .an1v1+ an2v2+ . . .+ (ann − µ)vn = bn

Also ist (19) genau dann eine Losung von (18), wenn ~v dieses lineare Gleichungssystem lost.Beachten Sie aber, dass das Gleichungssystem nicht unbedingt losbar sein muß; dann fuhrtder obige Ansatz nicht zum Ziel. Das kann passieren, wenn µ ein Eigenwert der Matrix Aist, d.h. wenn das System mit Schwingungen in Eigenfrequenz angeregt wird (Resonanzfall).

Beispiel 24. Fur eine Gleichung der Form

~x′ = A~x− cosωt~b

mit reellen A und ~b lost man

~x′ = A~x− eiωt~b

mit der vorstehenden Methode und nimmt dann den Realteil der Losung.

15

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3.2 Der Exponentialansatz (die Eigenwertmethode)

• Die Linearen Differentialgleichungssysteme mit konstanten Koeffizienten bilden dieeinzige großere Klasse von Differentialgleichungen, die man mit einer elementaren Me-thode losen kann.

• Wichtiges Hilfsmittel dabei ist die Theorie von Eigenwerten und -vektoren einer qua-dratischen Matrix.

In diesem Abschnitt behandeln wir die Eigenwertmethode zur Losung homogener linearerDifferentialgleichungssysteme mit konstanten Koeffizienten.

Wir betrachten das homogene lineare Differentialgleichungssystem

x′1 = a11x1 +a12x2 + . . . +a1nxnx′2 = a21x1 +a22x2 + . . . +a2nxn

. . .x′n = an1x1 +am2x2 + . . . +annxn

(20)

mit Konstanten aij . Mit Matrizen und Vektoren schreibt sich das kurz als

~x′ = A~x. (21)

Weil bei der Differentialgleichung x′ = ax offenbar der Exponentialansatz x(t) = eλt erfolg-reich ist, namlich mit λ = a eine Losung liefert, probieren wir fur (21) etwas ahnliches. Weildie Losungsfunktion ~x(t) vektorwertig sein muss, versuchen wir den Ansatz

~x(t) = eλt~v. (22)

Einsetzen in die Differentialgleichung zeigt, dass dies genau dann eine Losung liefert, wennλeλt~v = A(eλt~v), d.h. wenn nach Division mit eλt 6= 0 gilt

A~v = λ~v.

Diese Gleichung fur λ und ~v hat naturlich immer die Losung ~v = ~0 und λ beliebig, aber dieliefert auch nur die triviale Losung der homogenen Differentialgleichung. Daran sind wir nichtinteressiert. Interessant sind Losungen mit ~v 6= 0, bei denen also λ ein Eigenwert und ~v einzugehoriger Eigenvektor von A ist. Wie man zu einer gegebenen Matrix die Eigenwerte undEigenvektoren bestimmen kann, wissen Sie aus dem Modul Lineare Algebra fur Ingenieure.Die Ergebnisse finden Sie noch einmal im Anhang Abschnitt 11.1.

Wir haben also gefunden:

~x(t) = eλt~v ist genau dann eine (nicht-triviale) Losung derDifferentialgleichung

~x′ = A~x, (23)

wenn λ ein Eigenwert und ~v ein zugehoriger Eigenvektor von A sind.

Beispiel 25. Wir betrachten das homogene lineare Differentialgleichungssystem ~x′ = A~xmit der Matrix

A =

−2 2 −32 1 −6−1 −2 0

16

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Die charakteristische Gleichung ist

det(A− λE) = 45 + 21λ− λ2 − λ3 = 0.

Sie hat die Losungen −3 und 5, wobei −3 eine doppelte Nullstelle des charakteristischenPolynoms ist.

Eigenvektoren zum Eigenwert −3. Wir erhalten das Gleichungssystem

(A− (−3)E)~v =

1 2 −32 4 −6−1 −2 3

(xyz

)= 0

Man sieht mit bloßem Auge, dass die zweite und dritte Gleichung Vielfache der ersten sind.Es bleibt also nur die Gleichung

x+ 2y − 3z = 0

und wir konnen zwei Parmeter frei wahlen: Der Losungsraum, der sogenannte Eigenraumzum Eigenwert −3 ist zweidimensional.

z = 0, y = 1 =⇒ x = −2z = 1, y = 0 =⇒ x = 3

Mit diesen Wahlen erhalten wir zwei linear unabhangige Eigenvektoren

~v1 =

(−210

), ~v2 =

(301

)zum Eigenwert λ = −3.

Eigenvektoren zum Eigenwert 5. Wir erhalten das Gleichungssystem

(A− 5E)~v =

−7 2 −32 −4 −6−1 −2 −5

(xyz

)= 0

Mit dem Gaußalgorithmus ergibt sich das aquivalente System0 0 00 1 21 2 5

(xyz

)= 0

mit der Losung ~v3 =

(12−1

)als Eigenvektor zum Eigenwert 5.

Die allgemeine Losung von ~x′ = A~x ist daher

~x(t) = e−3t(c1

(−210

)+ c2

(301

)) + c3e

5t

(12−1

).

Wie viele unabhangige Losungen liefert die Eigenwertmethode? Im optimalen Fallhat eine n-reihige Matrix n-verschiedene Eigenwerte λ1, . . . , λn. Die zugehorigen Eigenvek-toren ~v1, . . . , ~vn sind nach einem Satz der linearen Algebra dann linear unabhangig, und derWronskitest liefert, dass

eλ1t~v1, . . . , eλnt~vn

eine Losungsbasis bilden. Aber es kann folgende Probleme geben:

17

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1. Auch bei reeller Matrix A konnen komplexe Eigenwerte auftreten. Dann sind die zu-gehorigen Eigenvektoren auch komplex, und man erhalt eben eine komplexe Losungs-basis. Wenn man aber an einer reellen Losungsbasis interessiert ist, muss man nochein wenig arbeiten.

2. Das charakteristische Polynom kann mehrfache Nullstellen haben, und dann sind eseben nicht mehr n verschiedene. Aber zu einer k-fachen Nullstelle, man sagt zu einemEigenwert der algebraischen Vielfachheit k, kann es durchaus k linear unabhangigeEigenvektoren geben. Dann sagt man, die geometrische Vielfachheit sei gleich der al-gebraischen, und alles geht problemlos wie oben, der Eigenwert liefert k linear un-abhangige Losungen.

3. Ein Eigenwert der algebraischen Vielfachheit k > 1 kann aber auch nur weniger als klinear unabhangige Eigenvektoren besitzen, die geometrische Vielfachheit kann kleinersein als die algebraische. Wie findet man dann dazu k unabhangige Losungen derDifferentialgleichung?

Dem ersten und dritten Fall wenden wir uns jetzt zu.

Komplexe Eigenwerte. Sei A eine reelle Matrix. Wenn das charakteristische Polynomkomplexe Nullstellen hat, treten diese in komplex-konjugierten Paaren λ = α + iω undλ = α− iω auf. Auch die entsprechenden Eigenvektoren sind dann konjugiert-komplex.

Fur die Losung der Differentialgleichung kann man von komplex-konjugiertenPaaren von Losungen je eine vergessen, wenn man von der verbleibenden den

Real- und Imaginarteil nimmt.

Das ist klar, weil Linearkombinationen von Losungen wieder Losungen sind, die Gleichungist ja homogen(!), und weil fur komplexes z

Re z =12z +

12z, Im z =

12iz − 1

2iz.

Beispiel 26. Die Matrix

A =(

1 −11 1

).

hat die charakteristische Gleichung (1− λ)2 + 1 = 0. Sie hat die Losungen

λ1,2 = 1± i.

Offensichtlich sind~v1 =

(i1

)und ~v2 =

(−i1

)zugehorige Eigenvektoren. Das Differentialgleichungssystem

x′1 = x1 − x2

x′2 = x1 + x2

hat daher die allgemeine komplexe Losung

~x(t) = c1e(1+i)t

(i1

)+ c2e

(1−i)t(−i1

), c1, c2 ∈ C

18

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Die Losunge(1+i)t

(i1

)= et(cos t+ i sin t)

(i1

)= et

(− sin tcos t

)+ iet

(cos tsin t

)liefert die allgemeine reelle Losung

~x(t) = a1et(− sin tcos t

)+ a2e

t(

cos tsin t

), a1, a2 ∈ R.

Die komplexe Losung e(1−i)t(−i1

)kann man also vergessen.

Defizite bei den Eigenvektoren. Die Eigenvektoren sind Losungen der Eigenvektorglei-chungen

(A− λE)~v = ~0

zu den verschiedenen Eigenwerten λ der n-reihigen Matrix A. Im Idealfall gibt es n linearunabhangige Eigenvektoren. Wenn das aber nicht so ist, gibt es mehrfache Eigenwerte, zumBeispiel einen Eigenwert λ der algebraischen Vielfachheit k > 1, zu dem weniger als klinear unabhangige Eigenvektoren existieren. In der linearen Algebra zeigt man, dass es indiesem Fall zu λ immer noch k linear unabhangige Hauptvektoren gibt, die gewissermaßeneinen Ersatz fur die Eigenvektoren bilden. Ein Hauptvektor ist eine nicht-triviale Losungder Gleichung

(A− λE)k~v = 0,

woraus man sofort ersieht, dass Eigenvektoren auch Hauptvektoren sind, weil ja

(A− λE)k~v = (A− λE)k−1(A− λE)~v

ist.

Wir beschreiben ein Verfahren zur Gewinnung einer Losungsbasis des homogenen linearenDifferentialgleichungssystems (21), wenn es nicht genugend linear unabhangige Eigenvekto-ren gibt.

Satz 27 (Hauptvektorlosungen). Ist λ eine k-fache Nullstelle des charakteristischenPolynoms von A und ~v eine Losung von

(A− λE)k~v = 0, (24)

also ein Hauptvektor, so ist

~x(t) := eλtk−1∑j=0

tj

j!(A− λE)j~v = eλt

(~v + t(A− λE)~v + . . .+

tk−1

(k − 1)!(A− λE)k−1~v

)(25)

eine Losung von~x ′ = A~x.

Es gibt immer k linear unabhangige Losungen von (24), und solche fuhren zu linear un-abhangigen Losungen der Differentialgleichung.

Beweis. Der Beweis erfolgt durch einfaches Nachrechnen. Dabei hat man es leichter, wennman beachtet, dass (A− λE)m~v = 0 fur alle m ≥ k. Deshalb kann man die Summe in (25)einfach bis ∞ laufen lassen. Wir schreiben

~x0(t) :=∞∑j=0

tj

j!(A− λE)j~v.

19

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Dann folgt

~x0′(t) =

∞∑j=1

tj−1

(j − 1)!(A− λE)j~v = (A− λE)

∞∑j=1

tj−1

(j − 1)!(A− λE)j−1~v

= (A− λE)∞∑j=0

tj

j!(A− λE)j~v = (A− λE)~x0(t).

Daher ist~x ′(t) =

d

dteλt~x0(t) = λ~x(t) + (A− λE)~x(t) = A~x(t).

So einfach dieser Beweis im Grunde ist, so mysterios erscheint die Formel (25). Wie istman darauf gekommen? Dahinter steckt wieder eine ganz einfache Idee, deren technischeUmsetzung aber einige Erklarung erfordert. Wir behandeln sie im Anhang 11.2.

Die direkte Anwendung des Satzes mit den Hauptvektoren ist muhsam, denn man muss dieMatrixpotenzen bis (A − λE)k bilden. Einfacher geht es bei doppelten Nullstellen, und eslohnt, sich diesen haufiger auftretenden Fall zu merken:

Beispiel 28. Ist λ ein zweifacher Eigenwert bei beliebiger Dimension, so berechnet manzunachst einen Eigenvektor ~v1. Dazu muß man die Matrix A− λE bilden. Gibt es nun zu λkeinen zweiten linear unabhangigen Eigenvektor, so gibt es einen von ~v1 linear unabhangigenHauptvektor ~v2. Fur den gilt

0 = (A− λE)2~v2 = (A− λE)((A− λE)~v2).

Das heißt, (A − λE)~v2 ist ein Eigenvektor zum Eigenwert λ, also von der Form a~v1. Wirhaben daher

(A− λE)(1a~v2) = ~v1.

Weil es auf Vielfache 6= 0 bei Eigen- und Hauptvektoren nicht ankommt, konnen wir denFaktor 1/a vergessen.

Fazit: Fur einen Eigenvektor ~v1 ist das Gleichungssystem

(A− λE)~v2 = ~v1

losbar und liefert uns ”den“ fehlenden Hauptvektor zum Eigenwert λ. Die zugehorige Losungist dann

~y(t) = eλt(~v2 + t~v1).

Beispiel 29. Wir betrachten

A =

0 1 −1−2 3 −1−1 1 1

Diese Matrix hat die Eigenwerte λ1 = λ2 = 1 und λ3 = 2. Die Gleichung

(A− 1E)~v =

−1 1 −1−2 2 −1−1 1 0

(xyz

)=

(000

)

20

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liefert einen linear unabhangigen Eigenvektor

(110

)zum Eigenwert 1. Daher liefert

−1 1 −1−2 2 −1−1 1 0

(xyz

)=

(110

)

einen Hauptvektor

(00−1

)zum Eigenwert 1. Das Differentialgleichungssystem

~x′(t) = A~x

hat in diesem Fall eine Losungsbasis aus

~x1(t) = et

(110

), ~x2(t) = et(

(00−1

)+ t

(110

))

und einer weiteren Losung ~x3(t) = e2t

(011

)zum Eigenwert 2. Die allgemeine Losung ist

~x(t) =

(c1et + c2tet

c1et + c2tet + c3et

−c2et + c3et

)

21

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4 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung

• Skalare lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung kann man durch Einfuhren vonHilfsvariabeln aquivalent umschreiben als ein lineares System 1. Ordnung.

• Dann ubertragt sich die Losungstheorie von den Systemen auf den skalaren Fall.

• Fur die konkrete Losung skalarer Gleichungen kann man diese aber auch - und einfacher- direkt behandeln.

Wir betrachten nun gewohnliche lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung fur reell- oderkomplexwertige Funktionen. Im Gegensatz zu den Differentialgleichungssystemen sprichtman auch von skalaren Differentialgleichungen.

Die allgemeine Form ist diese:

x(n) + a1(t)x(n−1) + . . .+ an(t)x = b(t) (26)

mit stetigen reell- oder komplexwertigen Funktionen ak(t) und b(t) auf einem Intervall I.Ist b = 0, so nennt man die Gleichung homogen, andernfalls inhomogen.

Beispiel 30. Ein Beispiel liefert die Bewegungsgleichung fur ein Federpendel der Masse mmit Federkonstante k und Reibungskoeffizient a:

mx′′ + ax′ + kx = 0, (27)

die nach Normierung mit 1m in die vorstehende Form ubergeht.

Wenn man in diesem Beispiel die Geschwindigkeit mit v = x′ bezeichnet, ist die Gleichungaquivalent zu einem linearen System, namlich

x = v

v = − b

mx− a

mv

oder (xv

)′=(

0 1− bm − a

m

)(xv

). (28)

Jede Losung(

x(t)v(t)

)dieses Systems liefert durch “Vergessen” der zweiten Komponente eine

Losung von (27). Umgekehrt liefert jede Losung x(t) von (27) zusammen mit ihrer Ableitung

eine Losung(

x(t)x′(t)

)von (28).

Skalare Gleichungen und Systeme. Allgemein ist

x(n) + a1(t)x(n−1) + . . .+ an−1(t)x′ + an(t)x = b(t) (29)

nach Einfuhrung von “Hilfsfunktionen” x1(t) := x(t), x2(t) := x(t)′, . . . , xn(t) := x(n−1)(t)aquivalent zu

x1

x2

...xn−1

xn

=

0 1 0 . . . 00 0 1 . . . 0

. . .0 0 0 . . . 1

−an(t) −an−1(t) −an−2(t) . . . −a1(t)

x1

x2

...xn−1

xn

+

00...0

b(t)

. (30)

Als Konsequenz ist die Theorie der skalaren Differentialgleichungen n-ter Ordnung ein Spe-zialfall der Systeme 1. Ordnung, und beide Theorien stimmen weitgehend uberein. Dernachste Abschnitt ist deshalb einfach eine mehr oder weniger wortliche Ubersetzung desentsprechenden Abschnitts uber Systeme.

22

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4.1 Struktur des Losungsraumes

• Die Strukturen des Losungsraums sind analog zum Fall von Systemen 1. Ordnung.

• Der Wronskitest ist in diesem Fall “interessanter”.

• Und die Methode der Variation der Konstanten klappt auch.

Satz 31 (Existenz und Eindeutigkeitssatz). Gegeben sei Gleichung

x(n) + a1(t)x(n−1) + . . .+ an(t)x = b(t) (31)

mit stetigen reell- oder komplexwertigen Funktionen ak(t) und b(t) auf einem Intervall I.Sei t0 ∈ I und seien Anfangswerte

x(t0) = η0, x′(t0) = η1, . . . , x

(n−1)(t0) = ηn−1

vorgegeben. Dann gibt es genau eine Losung x(t) von (31) mit diesen Anfangswerten.

Weil alle Losungen auf demselben Intervall definiert sind, kann man auch uber Linearkom-binationen von Losungen reden, und es gilt:

Satz 32 (Losungsraum der homogenen Gleichung). Der Losungsraum der homogenenGleichung

x(n) + a1(t)x(n−1) + . . .+ an(t)x = 0 (32)

ist ein Vektorraum der Dimension n. Das heißt:

• Linearkombinationen von Losungen sind wieder Losungen: Es gilt das Superpositions-prinzip.

• Es gibt n linear unabhangige Losungen.

• Sind die Losungen x1(t), . . . , xn(t) linear unabhangig, so ist jede andere Losung eineLinearkombiantion von diesen:

x(t) = c1x1(t) + . . .+ cnxn(t) (33)

Man nennt x1(t), . . . , xn(t) eine Losungsbasis oder ein Fundamentalsystem von Losun-gen und (33) ”die allgemeine Losung von (32)“.

Lineare Unabhangigkeit: Wronskitest. Wir betrachten Losungen x1(t), . . . , xn(t) von(32) und wollen wissen, ob sie linear unabhangig sind. Wir erinnern uns an die Umschreibungder Differentialgleichung als System und bilden die Matrix

W =

x1(t) x2(t) . . . xn(t)x′1(t) x′2(t) . . . x′n(t)

......

x(n−1)1 (t) x

(n−1)2 (t) . . . x

(n−1)n (t)

Die Losungen sind genau dann linear unabhangig, wenn diese Matrix an einer (und dann anjeder) Stelle x den Rang n, also eine Determinante 6= 0 hat.

23

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Satz 33 (Losungsraum des inhomogenen Systems). Sei xP (t) eine Losung der inho-mogenen Gleichung

x(n) + a1(t)x(n−1) + . . .+ an(t)x = b(t) (34)

Man nennt das auch eine partikulare oder spezielle Losung von (34). Dann findet man alleLosungen von (34), indem man zu xP alle Losungen xH(t) der zugehorigen homogenenGleichung (32) addiert. Man sagt,

x(t) = xP (t) + xH(t)

ist die allgemeine Losung von (15), wenn ~xH die allgemeine Losung von (13) ist.Ist x1(t), . . . , xn(t) eine Losungsbasis fur die homogene Gleichung, so ist also die Menge derLosungen der inhomogenen Gleichung gegeben durch

x(t) = xP (t) + c1x1(t) + . . .+ cnxn(t)

mit beliebigen Konstanten c1, . . . , cn.

Damit ist die Struktur des Losungsraumes linearer Differentialgleichungen n-ter Ordnunggeklart. Bleibt die Frage, wie man Losungen von (34) finden kann. Wir erklaren im nachstenAbschnitt, wie man bei konstanten Koeffizienten und b(t) = 0 vorgeht, um eine Losungsbasisfur die homogene Gleichung zu finden. Wenn man die hat, gibt es (auch bei variablen ai)ein Verfahren zur Bestimmung einer partikularen Losung des inhomogenen Systems:

Satz 34 (Variation der Konstanten). Sei x1(t), . . . , xn(t) eine Losungsbasis der homo-genen Gleichung (32). Mit der Wronskimatrix der xi bilde man das lineare Gleichungssystem

x1 . . . xnx′1 . . . x′n

. . .

x(n−1)1 . . . x

(n−1)n

c′1c′2...

c′n

=

00...

b(t)

. (35)

Die (eindeutig bestimmten) Losungsfunktionen c′i integriere man. Dann erhalt man mit

xP (t) = c1(t)x1(t) + . . . cn(t)xn(t)

eine partikulare Losung der inhomogenen Gleichung (34).

Beispiel 35. Wir betrachten

x′′ + x = tan t. (36)

Offenbar sind x1(t) = cos t und x2(t) = sin t Losungen der zugehorigen homogenen Glei-chung. Die Wronskimatrix ist (

cos t sin t− sin t cos t

)mit Determinante = 1, also haben wir eine Losungsbasis. Das Gleichungssystem(

cos t sinx− sin t cos t

)(c′1c′2

)=(

0tan t

)hat die Losungen

c′1 = − sin t tan t, c′2 = sin t

24

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und mit ein wenig Integrieren findet man

c1 = − ln1 + sin t

cos t+ sin t, c2 = − cos t.

Das liefert die partikulare Losung

yP (t) = − ln1 + sin t

cos tcos t+ sin t cos t− cos t sin t

= − cos t ln1 + sin t

cos t

Das hatte man nicht so einfach geraten. Die allgemeine Losung der Gleichung (36) ist

y(t) = − cos t ln1 + sin t

cos t+ c1 cos t+ c2 sin t.

Ansatz vom Typ der rechten Seite. Naturlich kann man versuchen, eine partikulareLosung von

x(n) + a1(t)x(n−1) + . . .+ an(t)x = b(t)

zu raten. Bei einfacher rechter Seite mag das gelingen. Weiter kommt man mit der Uberlegung,dass die linke Seite fur x(t) = q(t)eµt mit einem Polynom q(t) wieder einen Ausdruck der-selben Form p(t)eµt mit einem anderen Polynom ist. Ist also b(t) = p(t)eµt von dieser Form,so kann man den Ansatz y(t) = q(t)eµt mit einem allgemeinen Polynom q(t) machen undversuchen, dessen Koeffizienten durch Koeffizientenvergleich entsprechend zu bestimmen.

Welchen Ansatz wurden Sie versuchen, wenn b(t) = cosx?

25

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4.2 Der Exponentialansatz

• Der Exponentialansatz wird einfacher als bei Systemen: Keine Determinanten, keineEigenvektorberechnung.

Wir betrachten nun das Problem, Losungen der homogenen Gleichung n-ter Ordnung zufinden:

x(n) + a1x(n−1) + . . .+ anx = 0. (37)

Wenn die Koeffizienten ai konstant sind, und nur diesen Fall wollen wir jetzt betrachten,liefert die Umschreibung in ein System 1. Ordnung

x1

x2

...xn−1

xn

=

0 1 0 . . . 00 0 1 . . . 0

. . .0 0 0 . . . 1−an −an−1 −an−2 . . . −a1

x1

x2

...xn−1

xn

, (38)

kurz~x′ = A~x,

eine konstante Systemmatrix A, und wir wissen schon, wie die Losungen dann aussehen:Man erhalt Losungsbasisfunktionen der Form x(t) = eλt, “schlimmstenfalls” zusatzlich nochsolche der Form x(t) = tkeλt, wenn namlich beim System Hauptvektorlosungen erforderlichwerden. Dabei sind die λ die Eigenwerte der Systemmatrix. Es ist nicht so einladend, dascharakteristische Polynom einer Matrix der Form aus (38) zu bestimmen. Aber wenn manin (37) den Ansatz

x(t) = eλt

einsetzt, findet man sofort, dass genau die Losungen der Gleichung

λn + a1λn−1 + . . .+ an = 0. (39)

auch Losungen der Differentialgleichung liefern, und tatsachlich ist dies (bis auf ein moglichesVorzeichen der linken Seite) die charakteristische Gleichung auch der Matrix A.

Hat diese n verschieden Losungen, so erhalt man eine Losungsbasis, moglicherweise allerdingsmit komplexen Funktionen

e(α+iω)t = eαt(cosωt+ i sinωt),

die man wieder in Real- und Imaginarteil zerlegen kann, um eine reelle Losungsbasis zugewinnen.

Beispiel 36. Betrachtex′′ + 6x′ + 10x = 0.

Die charakteristische Gleichung λ2 + 6λ+ 10 = 0 hat dann die Losungen

λ1 = −3 + i, λ2 = −3− i,

und die liefern die allgemeine Losung

x(t) = c1e(−3+i)t + c2e

(−3−i)t. (40)

Die allgemeine reelle Losung erhalt man aus e(−3+i)t = e−3t(cos t + i sin t) durch Zerlegen.Sie ist

x(t) = c1e−3t cos t+ c2e

−3t sin t.

26

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Mehrfache Nullstellen des charakteristischen Polynoms. Bei Matrizen der Form (38)kann die Situation mehrfacher Eigenwerte mit mehreren linear unabhangigen Eigenvektorennicht auftreten, man ist immer in der Hauptvektor-Situation, die im skalaren Fall aber sehreinfach ist:

Eine k-fache Nullstelle λ der charakteristischen Gleichung (39) liefert linear unabhangigeLosungsbasisfunktionen

eλ, teλt, . . . , tk−1eλt.

Beispiel 37. Betrachtex′′ + 6x′ + 9x = 0.

Die charakteristische Gleichung λ2 + 6λ+ 9 = 0 hat dann die Losungen

λ1 = −3 = λ2.

Die liefern fur die Differentialgleichung die allgemeine Losung

x(t) = c1e3t + c2te

3t. (41)

27

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5 Nichtlineare Gleichungen und Erhaltungsgroßen

• Wir beschaftigen uns jetzt mit der Frage, wie man Informationen uber die Losungenvon dynamischen Systemen finden kann, die man nicht explizit losen kann.

Beispiel 38 (Rauber-Beute-Modell und Volterra-Prinzip). Wir betrachten ein haufigbenutztes dynamisches System, das sogenannte Rauber-Beute-Modell von Volterra. Es isteine Weiterentwicklung der logistischen Gleichung von Verhulst aus Beispiel 7. In einemSystem mit Beute- und Rauberindividuen nimmt man an, dass die Zahl x der Beutetiereexponentiell wachst, wenn keine Rauber vorhanden sind: x = ax. Beim Vorhandensein vony Raubern ist die Zahl der Rauber-Beute-Begegnungen proportional zu xy, und deshalbkorrigiert sich die vorstehende Gleichung zu x = ax − bxy. Ebenso nehmen die Rauber inAbwesenheit von Beute exponentiell ab und man findet y = cxy − dy. Sind schließlich dieRessourcen fur die Beutetiere nicht unbegrenzt, so kommt ein Korrekturterm fur die ”sozialeReibung“ hinzu, und Analoges gilt fur die Rauber. Schließlich ergibt sich das sogenannteVolterra-Lotka-Modell

x = ax− bxy − λx2

y = cxy − dy − µy2

mit nicht-negativen Konstanten a, b, c, d, λ, µ. (Fur negatives c und dmoduliert dieses Systemdie Populationsdynamik zweier konkurrierender Spezies.)Die Große der verschiedenen Parameter ist entscheidend fur den Verlauf der Phasenkurven.Wir betrachten hier zunachst den Fall ohne soziale Reibung, also

λ = µ = 0.

Im Punkt (x, y) =(dc ,

ab

), verschwindet die rechte Seite, und das bedeutet, dass

x(t) := x, y(t) := y

eine (konstante) Losung der Differentialgleichung ist, ein sogenanntes Gleichgewicht. Daraufgehen wir im nachsten Abschnitt ein.Jetzt machen wir eine kleine trickreiche Rechnung. Wir multiplizieren die erste Gleichungmit d/x, die zweite mit a/y und addieren:

dx

x+ a

y

y= ad− bdy + acx− ad = acx− cbxy + cbxy − bdy

= c(ax− bxy) + b(cxy − dy)= cx+ by.

Also istd

dt(d lnx+ a ln y − cx− by) = 0.

Das bedeutet aber, dass die Funktion

E(x, y) = d lnx+ a ln y − cx− by

auf jeder Losungskurve der Volterra-Lotka-Gleichung konstant ist, sie ist eine sogenannteErhaltungsgroße oder ein Integral des Systems und jede Losungskurve verlauft innerhalbeiner Niveaulinie dieser Funktion.

28

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Man kann sich numerisch-graphisch davonuberzeugen oder wirklich beweisen, dass dieNiveaulinien von E geschlossene Kurven um denGleichgewichtspunkt (x, y) herum sind, auf denendie Losungen periodisch herumlaufen.

2 4 6 8Beute

2

4

6

8

Raeuber

Sei (x(t), y(t)) eine solche Bahn mit Periode T . Dann ist wegen der Periodizitat

1T

∫ T

0

x

xdt =

1T

(lnx(T )− lnx(0)) = 0.

Andrerseits folgt aus der Differentialgleichung

1T

∫ T

0

x

xdt =

1T

∫ T

0

(a− by(t)) dt = a− b1T

∫ T

0

y(t)dt.

Aus beidem zusammen folgt1T

∫ T

0

y(t)dt =a

b= y

und mit gleichem Argument1T

∫ T

0

x(t)dt =d

c= x.

Das zeitliche Mittel der Populationsgroßen ist also unabhangig von der Losung immer dc

bzw. ab .

Damit haben wir wichtige Informationen uber die Losungen gewonnen, ohne diese explizitzu kennen.

Wir halten eine beruhmte Folgerung daraus fest:

Das Volterra-Prinzip. Interpretiert man die Beute als Schadlinge, die Rauber alsNutzlinge und wendet ein Gift an, das die Ausbreitung der Schadlinge aber gleicherma-ßen auch das der Nutzlinge reduziert, so entspricht das der Addition von Termen −εx bzw.−εy auf der rechten Seite, d.h. a wird zu a − ε und d zu d + ε, der Mittelwert d/c derSchadlinge erhoht sich auf (d+ ε)/c, statt sich zu reduzieren.

Fur nicht-verschwindende λ, µ gibt es wieder genau eine Gleichgewichtslosung

(x, y) =(bd+ aµ

bc+ λµ,ac− dλ

bc+ λµ

),

aber man findet keine Erhaltungsgroße. Die Diskussion der Losungen wird komplizierter.Mit Mathematica findet man zum Beispiel numerisch

a=4.4;b=1;c=.5;d=1; λ = .1;µ = .02;lsg:=NDSolve[{x’[t]==a x[t]-bx[t]y[t]-λ x[t]2,y’[t]==cx[t]y[t]-dy[t]-µ y[t]2,x[0]==.2;y[0]==1;} {x,y},{t,0,20}]ParametricPlot[Evaluate[{x[t],y[t]}/.lsg],{t,6,20},PlotRange− >{{0,2.5},{0,3}}]

0.5 1 1.5 2 2.5

0.5

1

1.5

2

2.5

3

29

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Es sieht aus, als liefen alle Bahnen gegen das Gleichgewicht, aber es konnte z. B. auch nocheine sehr kleine geschlossene Bahn geben. Die Entscheidung daruber ubersteigt den Rahmendieser Vorlesung, aber wir kommen auf verwandte Fragen im nachsten Abschnitt zuruck, vgl.Beispiel 47.

Das Auffinden der Funktion E(x, y) im vorangehenden Beispiel erscheint als Zaubertrick. Beiphysikalisch motivierten Differentialgleichungen kennt man aber oft aus der Physik schonErhaltungsgroßen (Energie, Impuls), und damit hat man dann wesentliche Information uberdie Phasenkurven des Systems. Wir machen das an drei klassischen Beispielen aus der Me-chanik deutlich. Vgl. auch die Abschnitte 12.3 und 12.4 in Muller: Mechanik II.

Beispiel 39 (Massenpunkt im Potentialfeld).Muller: Mechanik II, Abschnitt 12.4

Wir betrachten das System fur einen Massenpunkt der Newtonschen Mechanik in einerRaumdimension

x = m−1p,(42)

p = F (x).

Wir nehmen an, dass U(x) eine Stammfunktion von −F (x) ist, und wir definieren

E(x, p) := U(x) +1

2mp2. (43)

Ist dann (x(t), p(t)) eine Losungskurve von (42), so findet man:

d

dtE(x(t), p(t)) =

∂E

∂xx(t) +

∂E

∂pp(t) = −F (x)x(t) +

1mpp = −F (x)x(t) + xF (x) = 0.

Also ist E auf den Phasenbahnen konstant. In diesem Beispiel ist U gerade das Potentialdes Kraftfeldes und E die Summe aus potentieller und kinetischer Energie: Wir haben denEnergieerhaltungssatz bewiesen. Aber eigentlich haben wir die Definition (43) getroffen inKenntnis des Energieerhaltungssatzes!

Beispiel 40 (Pendelgleichung).Muller: Mechanik II, Abschnitt 15.2

Fur die Pendelgleichung

φ = L−1ω

ω = −g sinφ.

aus Beispiel 11 ist E(φ, ω) = −g cosφ + 12Lω

2 ein Integral, namlich wieder die Energie desPendels. In der Nahe von (0, 0) ist

E(φ, ω) ≈ −g +g

2φ2 +

12Lω2,

die Kurven E = const fur kleine Konstante sind also ellipsenartige Kurven um (0, 0). Deshalbist (0, 0) ein stabiler Gleichgewichtspunkt: Bei kleiner Auslenkung bleibt das Pendel in derNahe von (0, 0), vgl. den nachsten Abschnitt uber Stabilitat. Das war physikalisch klar, folgteaber nicht aus unseren bisherigen Einsichten.

30

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Weil die Phasenkurven in den Niveaulinienvon E liegen bekommt man außerdem aus denletzteren ein komplettes Phasenportrat. Wie-der sind die ”Schnittpunkte“ der Phasenbah-nen auf der φ-Achse keine Schnittpunkte vonPhasenbahnen, sondern vielmehr selbst kon-stante Bahnen, instabile Gleichgewichtslagendes Pendels.

-4 -2 0 2 4

-1.5

-1

-0.5

0

0.5

1

1.5

2

Technische Anmerkung. Damit dieses Bild uberzeugt, muß das Niveau durch die instabilenGleichgewichtspunkte sichtbar sein. Bei dem ContourPlot-Befehl von Mathematica sucht sichdas Programm aber die Niveaus fur den Plot selbst aus, und das fragliche ist in der Regelnicht dabei. Deshalb wurden 3 Bilder uberlagert:

niveau[u−, v−, z−] =Contourplot[−Cos[x] + y2,

{x,−4, 4}, {y,−2, 2},AspectRatio− > Automatic,

Contours− > z,

ContourShading− > False,

Axes− > True, AxesOrigin− > {0, 0},PlotPoints− > 50, PlotRange− > {u, v}]

Show[niveau[1, 1, 1], niveau[−1, .8, 3], niveau[1.01, 6, 5], PlotRange− > {−2, 2}]

Im Anhang Abschnitt 11.3 finden sie als Beispiel die Herleitung der Keplerschen Gesetzeaus dem Gravitationsgesetz und den Bewegungsgleichungen von Newton. Sie dokumentierteine der ganz großen Leistungen in der Geschichte der Naturwissenschaften und zeigt gleich-zeitig sehr klar die Bedeutung von Integralen bei der Behandlung nicht explizit losbarerdynamischer Systeme.

Fazit. Viele dynamische Systeme (”die meisten“) lassen sich nicht explizit losen, obwohl derExistenz- und Eindeutigkeitssatz sicherstellt, dass das Anfangswertproblem eine eindeutigeLosung besitzt. Information uber die Eigenschaften dieser Losung lassen sich gelegentlich di-rekt aus der Differentialgleichung gewinnen. Zum Beispiel liefern bekannte Erhaltungsgroßensolche Information.

Wie findet man aber Erhaltungsgroßen, wenn man sie noch nicht kennt? Was kann man tun,wenn es keine Erhaltungsgroßen gibt? Fur diese Situationen gibt es keine Patentrezepte, manbraucht fur die konkrete Differentialgleichung konkrete Ideen.

31

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6 Stabilitat

• Gleichgewichtszustande von Systemen konnen auf Storung sehr unterschiedlich reagie-ren. Zunachst untersuchen wir, wie.

• Besonders interessieren wir uns fur stabile Gleichgewichtszustande.

Vergleichen sie zu diesem Abschnitt [Regelungstechnik I, Abschnitt 4.6 ] oder [Regelung inder Luft- und Raumfahrt, Abschnitt 6 ].In der Regelungstechnik betrachtet man Regelkreisglieder, die einem Eingangssignal xe (derRegelabweichung) mit einem Ausgangssignal xa (der Stellgroße) antworten. In einem ma-thematischen Modell ist xa die Losung eines Anfangswertproblems zum Beispiel mit xe alsrechter Seite. Ziel der Regelung ist der Erhalt eines bestimmten Systemzustandes, Regelab-weichungen sollen korrigiert werden.

Beispiel 41.Regelungstechnik I, Abschnitt 2.3

Wir betrachtenT1xa = −xa + xe(t), xe(t0) = x0.

Das entspricht in der Regelungstechnik einem sogenannten PT1-Glied. Fur gegebenen Ein-gang xe erhalt man eine partikulare Losung xa, die das Anfangswertproblem lost. Die all-gemeine Losung der Differentialgleichung ist

xa(t) = xa(t) + Ce−t−t0

T1 .

Storungen der Stellgroße xa, hervorgerufen durch Schwankungen im Betrieb des Reglers,die sich in der Anfangsbedingung niederschlagen, klingen wegen des negativen Exponentenvon e also im Laufe der Zeit ab. Der Regler arbeitet ”stabil“. Und diese Eigenschaft hangtoffenbar nicht von xe, sondern nur vom Rest der Differentialgleichung, also vom Regler selbstab. Es ist klar, dass Stabilitat eine wunschenswerte Eigenschaft von Reglern ist.

Wir wollen deshalb die ”Stabilitat“ von (autonomen) dynamischen Systemen

~x = ~F (~x) (44)

betrachten.

Definition 42 (Gleichgewicht). Punkte ~x0 ∈ Rn, in denen

~F (~x0) = 0,

heißen Gleichgewichtspunkte des Systems. In anderer Terminologie heißen sie auch stationare,singulare oder kritische Punkte. Offenbar ist dann

~x(t) ≡ ~x0

eine Losung des Problems, und zwar eine konstante: das System ”ruht im Gleichgewicht“.

”Stabilitat“ betrifft den Verlauf der Phasenkurven in der Nahe eines solchen Gleichgewichts-punktes. Zunachst ein Beispiel.

Beispiel 43. Wir betrachten im R2 das System

~x = A~x (45)

mit einer konstanten (2 × 2)-Matrix A, und wir setzen voraus, dass detA 6= 0. Mit λ1 undλ2 bezeichnen wir die Eigenwerte von A. Dann gilt einer der folgenden Falle:

32

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• λ1 und λ2 sind verschieden und reell. Dann ist die allgemeine Losung von (45) von derForm

c1eλ1x~v1 + c2e

λ2x~v2

• λ1 = λ2 reell. Dann ist die allgemeine Losung von (45) von der Form

eλ1x(c1~v1 + c2~v2)

oder, falls die geometrische Vielfachheit von λ1 kleiner als zwei ist, von der Form

eλ1x(c1~v1 + xc2~v2)

• Die Eigenwerte λ1 = α + iω und λ2 = λ1 sind konjugiert komplex zueinander undnicht-reell. Dann ist die allgemeine Losung von (45) von der Form

eαx(

a cos ωt + b sin ωtc cos ωt + d sin ωt

)Wir skizzieren hier die Phasenportrats fur verschiedene Falle:

λ > 0, λ >01 2λ > 0, λ <01 2 λ , λ rein imaginär1 2

Beachten Sie, dass die Phasenkurven nicht durch 0 hindurchgehen, vielmehr ist 0 eine eigenePhasenkurve, eben die Gleichgewichtslage.

Es kann aber auch so aussehen:

λ , λ komplex mit negativem Realteil1 2

Bei diesem 2-dimensionalen System gilt also:

1. Ist der Realteil beider Eigenwerte negativ, so gehen alle Losungen fur t→∞ gegen 0,man sagt 0 ist ein attraktives Gleichgewicht.

2. Sind beide Eigenwerte rein imaginar, so bleiben Phasenkurven, die nah bei 0 startenauch nah bei 0. Man sagt 0 ist ein stabiles Gleichgewicht. (In unserem Fall sind diePhasenkurven sogar periodisch).

3. Hat mindestens ein Eigenwert positiven Realteil, so gibt es Losungen, die ”weglaufen“.Das Gleichgewicht ist instabil.

33

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Wir werden sehen, dass diese Situation typisch ist. Zunachst mussen wir aber die Begriffeklaren.

Definition 44. Wir nennen einen Gleichgewichtspunkt ~x0 eines (nicht notwenig linearen)dynamischen Systems

~x = ~F (~x)

• attraktiv, wenn Losungen, die nahe dem Gleichgewicht starten, schließlich gegen dieGleichgewichtslage konvergieren, genauer: Wenn es ein δ > 0 gibt, so dass

limt→∞

~x(t) = x0

fur jede Losung ~x(t) mit |~x(0)− ~x0| < δ.

• stabil, wenn alle Losungen, die nahe x0 starten, in der Nahe des Gleichgewichts bleiben,d.h. wenn es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt, so dass

|~x(t)− ~x0| < ε fur alle t > 0,

fur jede Losung ~x(t) mit |~x(0)− ~x0| < δ.

• asymptotisch stabil, wenn es attraktiv + stabil ist.

• instabil, wenn nicht alle Losungen, die nahe x0 starten, auch nahe x0 bleiben, d.h.wenn es ein ε > 0 und zu jedem δ > 0 eine Losung ~x(t) und ein t1 > 0 gibt, so dass

|~x(0)− ~x0| < δ, aber |~x(t1)− ~x0| > ε.

Damit gilt

Satz 45 (Stabilitatssatz: Linear konstanter Fall). Das Gleichgewicht 0 von

~x = A~x

ist

(i) asymptotisch stabil, falls alle Eigenwerte von A negativen Realteil haben,

(ii) stabil, falls

• kein Eigenwert von A positiven Realteil hat und

• fur die Eigenwerte mit Realteil=0 die geometrische Vielfachheit gleich der alge-braischen ist

(iii) instabil, falls ein Eigenwert von A positiven Realteil hat oder ein Eigenwert mit Realteil0 existiert, dessen geometrische Vielfachheit kleiner als seine algebraische ist.

Fur den zweidimensionalen Fall folgt das direkt aus den oben aufgeschriebenen explizitenLosungen, und der hoher-dimensionale Fall geht genauso.

Wir wenden uns jetzt der Stabilitat im nichtlinearen Fall zu.

Im allgemeinen kann man dann die Losungen des Systems nicht mehr explizit hinschreibenwie bei linearen Systemen mit konstanten Koeffizienten. Aber man kann naturlich numerischexperimentieren oder auf andere Weise sogar exakte Informationen gewinnen:

34

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Im Pendelbeispiel 40 oder im Rauber-Beute-Modell Beispiel 38 mit λ = 0 = µ hatten wirbereits stabile Gleichgewichte gefunden. Und im Rauber-Beute-Modell mit sozialer Reibunglieferte die Numerik zumindest den Verdacht auf ein asymptotisch stabiles Gleichgewicht.

Mit Einschrankungen laßt sich der Typ des Gleichgewichts im nichtlinearen Fall aus derlinearen Approximation von ~F bei ~x0 ablesen:

Satz 46 (Stabilitatssatz: Nichtlinearer Fall). Ist ~F (~x0) = 0 und haben die Eigenwerteder (n× n)-Matrix

F ′(~x0) =

(∂ ~Fi∂xj

(~x0)

)samtlich negativen Realteil, so ist ~x0 ein asymptotisch stabiles Gleichgewicht. Hat wenigstensein Eigenwert einen positiven Realteil, so ist ~x0 ein instabiles Gleichgewicht.

Beispiel 47 (Rauber-Beute-Modell). Fur das Vektorfeld aus Beispiel 38 findet man imGleichgewichtspunkt (x, y) die Ableitung

H ′(x, y) =(−λx −bxcy −µy

)und daraus die folgende Gleichung fur die Eigenwerte ξ:

ξ2 + (µy + λx)ξ + xy(λµ+ bc) = 0.

Fur λ = µ = 0 hat diese Gleichung rein-imaginare konjugiert-komplexe Nullstellen. Wirwissen zwar aus den Ergebnissen von Beispiel 38, dass das Gleichgewicht in diesem Fallstabil ist, aber das kann man im nicht-linearen Fall nicht aus ξ1,2 = ±i

√xybc schließen.

Falls (λ, µ) 6= (0, 0), haben alle Nullstellen der quadratischen Gleichung negativen Real-teil −µy+λx

2 . Also kann man den Satz 46 anwenden und erhalt ein asymptotisch stabilesGleichgewicht.

Beispiel 48 (Pendelgleichung).Muller: Mechanik II, Abschnitt 15.2

Vgl. Beispiel 40. Die Bewegungsgleichung fur das Pendel

φ = L−1ω

ω = −g sinφ.

hat im (φ, ω)-Phasenraum die Gleichgewichtspunkte (nπ, 0), n ganzzahlig. Die Ableitungs-matrix (

0 L−1

−g cosφ 0

)hat die charakteristische Gleichung λ2 + g

L cosφ = 0. Fur φ = nπ mit ungeradem n hat manalso zwei reelle Eigenwerte ±

√gL , von denen einer positiv ist: Das Gleichgewicht ist instabil,

wie auch aus physikalischen Grunden offensichtlich ist. Fur gerades n, d.h. fur das Pendelin unterster Position liegt aus physikalischen Grunden ein stabiles Gleichgewicht vor, wiewir auch schon im Beispiel 40 festgestellt haben. Aber die Eigenwerte ±i

√gL haben Realteil

= 0, und der vorstehende Satz macht keine Aussage.

35

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7 Laplacetransformation

• Wir definieren die Laplacetransformation und zeigen ihre wichtigsten Eigenschaften.

• Wir definieren auch eine Klasse von Funktionen, die Funktionen von exponentiellerOrdnung, fur die das uneigentliche Integral der Laplacetransformation immer existiert.

• Der Ableitungssatz erklart, warum die Laplacetransformation beim Losen linearer Dif-ferentialgleichungen helfen kann. Sie ist dadurch gleichermaßen fur gewohnliche wiepartielle Differentialgleichungen von Bedeutung.

• In der Regelungstechnik und der Theorie der linearen Systeme ist sie das zentralemathematische Werkzeug, hinter dem die Differentialgleichungen oft kaum noch er-kennbar sind. Vergleichen Sie [Regelungstechnik I ] oder [Regelung in der Luft- undRaumfahrt ].

7.1 Definition und grundlegende Eigenschaften

Definition 49. Fur eine Funktion f : [0,∞[→ C definiert man die Laplacetransformationfolgendermaßen: Fur s ∈ C sei

L[f ](s) :=∫ ∞

0

f(t)e−stdt,

falls das Integral existiert, d.h. falls

limβ→∞

∫ β

0

f(t)e−stdt

existiert.

Notation: Haufig schreibt man einfacher F (s) statt L[f ](s).

Eine einfache Konsequenz der Definition ist der

Satz 50 (Linearitat). Die Laplacetransformation ist linear: Existieren L[f ] und L[g], soexistieren auch L[f + g] und L[af ] fur beliebiges a ∈ C und es gilt

L[f + g] = L[f ] + L[g], L[af ] = a L[f ].

Wir berechnen nun die Laplacetransformation einiger Funktionen.

36

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Satz 51 (Laplacetransformierte). Es gilt fur a ∈ C und n ∈ N

L[eat](s) =1

s− aRe s > Re a (46)

L[sin at](s) =a

s2 + a2Re s > | Im a| (47)

L[cos at](s) =s

s2 + a2Re s > | Im a| (48)

L[1](s) =1s

Re s > 0 (49)

L[tn](s) =n!sn+1

Re s > 0 (50)

Beweis. Zu (46).∫ β

0

eate−stdt =1

a− se(a−s)t

∣∣∣∣β0

=1

a− s

(e(Re a−Re s)βei(Im a−Im s)β − 1

)→ 1

a− s(0− 1) =

1s− a

, falls Re s > Re a.

Zu (47). Aus (46) und der Linearitat von L folgt

L[sin(at)](s) = L[12i

(eiat − e−iat)](s)

=12i( L[eiat](s)− L[e−iat](s)

)=

12i

(1

s− ia− 1s+ ia

)=

12i

2ias2 + a2

=a

s2 + a2.

Zu (48). Analog.Zu (49). Folgt aus (48) mit a = 0.Zu (50). Mit vollstandiger Induktion. Den Fall t0 = 1 haben wir gerade erledigt. Zum In-duktionsschritt beachte, dass mit partieller Integration fur n > 0∫ β

0

tne−st = [tn−e−st

s]β0 +

n

s

∫ β

0

tn−1e−stdt

=−βn

sesβ+n

s

∫ β

0

tn−1e−stdt.

Fur β →∞ geht der erste Summand gegen 0, der zweite gegen ns L[tn−1](s), also ist

L[tn](s) =n

s L[tn−1](s).

Das vollendet den Induktionsschritt.

Jetzt wollen wir auf die Frage nach der Existenz der Laplacetransformierten eine einfacheAntwort geben. Dazu mussen wir zwei Dinge sicherstellen:

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1. Fur alle β > 0 muß∫ β0f(t)e−ztdt existieren.

Das ist der Fall, wenn f(t)auf jedem endlichen Intervallbeschrankt und stuckweise ste-tig ist, d.h. nur endlich vieleUnstetigkeitsstellen besitzt. Bei-spiele liefern naturlich die ste-tigen Funktionen f : [0,∞[→ R,aber auch die nebenstehende

”Sagezahnfunktionen“.

1

1

-1

-2 2

2. Der Grenzwert

limβ→∞

∫ β

0

f(t)e−stdt,

muß existieren und das heißt, der Integrand muß ausreichend schnell gegen 0 gehen.Nun ist mit s = x+ iy

|f(t)e−st| = |f(t)| · |e−xt| · |e−ity|︸ ︷︷ ︸=1

.

Je großer x ist, um so schneller fallt e−xt und umso mehr Wachstum kann sich f(t)

”erlauben“. Aber naturlich darf f(t) nicht schneller wachsen, als es die Exponential-funktion kompensieren kann. Das fuhrt zu folgender

Definition 52. Sei f : [0,∞[→ C eine Funktion

1. f(t) heißt stuckweise stetig, wenn es in jedem endlichen Intervall nur endlich vieleUnstetigkeitsstellen besitzt.

2. f(t) heißt von exponentieller Ordnung, wenn es Konstanten C und γ gibt, so dass furalle t ≥ 0

|f(t)| ≤ Ceγt.

Beispiel 53. Die Funktionen tn, eat oder tneat fur komplexes a sind von exponentieller Ord-nung. Damit sind alle Losungen homogener linearer Differentialgleichungen mit konstantenKoeffizienten von exponentieller Ordnung. Die Funktion f(t) = et

2ist nicht von exponenti-

eller Ordnung, aber es ist kaum denkbar, dass Sie ernsthaft mit ihr zu tun bekommen.

Unter den jetzt diskutierten Voraussetzungenexistiert die Laplacetransformation vielleichtnicht fur alle Werte von s, aber doch fur al-le Werte mit hinreichend großem Realteil, al-so rechts von einer Geraden x = γ in der kom-plexen Ebene:

γ

Satz 54 (Funktionen von exponentieller Ordnung). Sei f : [0,∞[→ C von exponen-tieller Ordnung und stuckweise stetig. Dann gibt es ein γ ∈ R, so dass L[f ](s) fur alle s ∈ Cmit Re(s) > γ existiert.Weiter gilt fur reelles x

limx→∞

L[f ](x) = 0. (51)

38

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Beweis. Die Existenz der endlichen Integrale ist nach den gemachten Vorausetzungen klar.Seien nun C und γ wie in der Definition. Dann ist

|f(t)e−st| = |f(t)e−xt| ≤ Ceγte−xt = Ce(γ−x)t.

Wenn x > γ, geht dies fur t → ∞ exponentiell schnell gegen null, und es existiert dasuneigentliche Integral. Weiter gilt∣∣∣∣∫ ∞

0

f(t)e−stdt∣∣∣∣ ≤ ∫ ∞

0

Ce(γ−x)tdt =C

γ − xe(γ−x)t

∣∣∣∣∞0

=C

x− γ→ 0 fur x→∞.

Wenn f von exponentieller Ordnung ist, erhalt man fur t ≥ 0

|tf(t)| ≤ tCeγt ≤ et Ceγt = Ce(γ+1)t.

Also ist auch tf(t) von exponentieller Ordnung. Man erhalt den

Satz 55 (Multiplikationssatz). Es gilt

L[tf(t)](s) = − d

ds L[f ](s).

Beweis.

L[tf(t)](s) =∫ ∞

0

f(t)te−stdt = −∫ ∞

0

f(t)∂

∂se−stdt = − d

ds

∫ ∞

0

f(t)e−stdt = − d

ds L[f ](s).

Generalvoraussetzung: Einstweilen setzen wir voraus, dass alle betrachteten Funktio-nen von exponentieller Ordnung und stuckweise stetig sind. Die Gleichungen fur die La-

placetransformierten gelten fur hinreichend großen Realteil von s, ohne dass wir das immerwieder anmerken.

Wir kommen nun zur Schlussel-Eigenschaft der Laplacetransformation in Bezug auf Diffe-rentialgleichungen. Die Ableitung von f nach der Zeit bezeichnen wir dabei mit f ′ statt mitf , weil das bei den hoheren Ableitungen bequemer zu notieren ist.

Satz 56 (Ableitungssatz). Erfullen f(t) und f ′(t), . . . , f (n)(t) die Generalvoraussetzung,so gilt

L[f ′](s) = s L[f ](s)− f(0)

und allgemeiner

L[f (n)](s) = sn L[f ](s)− sn−1f(0)− sn−2f ′(0)− . . .− fn−1(0).

Bis auf die additive Konstante −f(0) entspricht der Differentiation von f also die Multi-plikation von F (s) = L[f ](s) mit s. Differentialgleichungen werden damit zu algebraischenGleichungen.

Beweis. Es ist∫ β

0

f ′(t)e−stdt = f(t)e−st|β0 −∫ β

0

f(t)(−s)e−stdt = f(t)e−st|β0 + s

∫ β

0

f(t)e−stdt.

39

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Weil f und f ′ die Generalvoraussetzung erfullen, folgt

L[f ′](s) = 0− f(0) + s

∫ ∞

0

f(t)e−stdt = s L[f ](s)− f(0).

Die allgemeine Behauptung folgt daraus durch vollstandige Induktion.

Satz 57 (Dampfungssatz). Fur komplexes a gilt

L[eatf ](s) = L[f ](s− a).

Beweis. L[eatf ](s) =

∫ ∞

0

eatf(t)e−stdt =∫ ∞

0

f(t)e−(s−a)tdt = L[f ](s− a).

40

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7.2 Anwendungen der Laplacetransformation

• Wir behandeln Anwendungen der Laplacetransformation auf auf verschiedene Diffe-rentialgleichungsprobleme.

Beispiel 58. Lose das Anfangswertproblem

y′′ − 6y′ + 9y = t, y(0) = 0, y′(0) = 1.

Wir wenden auf die Differentialgleichung die Laplacetransformation an. Dabei benutzen wirdie Linearitat und den Ableitungssatz. Wir schreiben zur Vereinfachung

Y := L[y(t)](s)

und erhaltens2Y − sy(0)− y′(0)− 6(sY − y(0)) + 9Y =

1s2.

Einsetzen der Anfangswerte und Auflosen nach Y liefert

Y =1

s2(s− 3)2+

1(s− 3)2

.

Partialbruchzerlegung des ersten Terms der rechten Seite mit dem Ansatz

1s2(s− 3)2

=A

s+B

s2+

C

s− 3+

D

(s− 3)2

liefert

Y =2/27s

+1/9s2

+−2/27s− 3

+1/9

(s− 3)2+

1(s− 3)2

.

Die Rucktransformation ergibt

y =227

+19t− 2

27e3t +

19te3t + te3t =

227

+19t+ (− 2

27+

109t)e3t.

Naturlich kann man das vorstehende Problem auch mit Exponentialansatz und Ansatz vomTyp der rechten Seite losen. Einen Vergleich beider Methoden finden Sie im Anhang. Erergibt einen kleinen Vorteil fur die Laplacetransformation, aber Computer schaffen dasnaturlich noch einfacher:

DSolve[{ y”[t]-6y’[t]+9y[t]==t,y[0]==0,y’[0]==1},y,t]{{y− >

((19 + 10e3#1

9

)#1− 2e3#1

27 + 227&

)}}

Daraus ersehen wir, dass die Bedeutung der Laplacetransformation heute sicher nicht mehrin der Losungspraxis fur lineare Differentialgleichungen wie die obige liegt. Ihre Bedeutunghat andere Grunde.

• In der Regelungstechnik und Netzwerktheorie spart man sich die Transformiererei,indem man einfach in den s-Bereich ”umzieht“. Systemkomponeten werden einfachdurch ihre Wirkung im transformierten Bereich (Bildbereich) beschrieben, und dieseWirkung ist dort eben einfach algebraisch.

• Die Laplacetransformation ist ideal fur die Behandlung von inhomogenen linearen Dif-ferentialgleichungen mit unstetiger rechter Seite (Impulse, Stoß- oder Schockphanomene).

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• Bei partiellen Differentialgleichungen, hat man es mit den Ableitungen nach mehrerenVariablen zu tun. Durch Anwendung der Laplacetransformation auf eine Variable kannman gelegentlich die Variablenzahl drucken und das Problem vereinfachen.

Wir kommen auf alle diese Punkte zuruck. Zuvor mussen wir allerdings noch einen Punkt ausder Losung der Beispielaufgabe klaren, namlich die Frage nach der ”Rucktransformation“.Wir haben Y berechnet und dann eine Funktion y angegeben, fur die L[y] = Y ist. Dabei ha-ben wir unterstellt, dass es nur eine solche Funktion y gibt, dass also die Laplacetransformationinjektiv ist. Zum Gluck ist das so:

Satz 59 (Eindeutigkeitssatz von Lerch). Wenn f und g unsere Generalvoraussetzungerfullen und wenn

L[f ](s) = L[g](s)

fur alle s mit hinreichend großem Realteil, dann ist

f(t) = g(t)

in allen Punkten t, in denen beide Funktionen stetig sind.

Auf den Beweis verzichten wir hier, die Bedeutung des Satzes sollte oben deutlich gewordensein.

Bemerkung zur Rucktransformation rationaler Funktionen. Beim Beispiel 58 wardas Hauptproblem die Rucktransformation einer gebrochen-rationalen Funktion F (s) = p(s)

q(s)

mit Polynomen p(s) und q(s). Das ist in diesem Zusammenhang ein typisches Problem. Auslimx→∞ F (x) = 0, vgl. Satz 54, folgt, dass der Zahlergrad kleiner ist als der Nennergrad,und daher ist F (s) nach Partialbruchzerlegung eine Summe von Termen der Form

a

(s− si)k.

Dabei sind die si die Nullstellen von q(s), und wenn mi die Ordnung von si bezeichnet, ist1 ≤ k ≤ mi. Wegen

L[

a

(k − 1)!esittk−1

]=

a

(s− si)k

ist damit das Problem der Rucktransformation von gebrochen-rationalen Funktionen erle-digt, sobald man die Partialbruchzerlegung hat. Schon die Nullstellen des Nenners alleingeben wichtige qualitative Information: Wegen esit = exit(cos yit+ i sin yit) bestimmen derRealteil xi das Stabilitats- und der Imaginarteil yi das Frequenzverhalten der Losung.

Unstetige rechte Seite. Ein weiteres wichtiges Anwendungsfeld sind lineare Differenti-algleichungen mit unstetiger rechter Seite. Dazu betrachten wir die Sprungfunktion oderHeavisidefunktion

uτ (t) :=

{0 fur t ≤ τ,

1 fur t > τ.α

mit positivem τ . Sie ist ideal, um die rechte Seite einer Differentialgleichung erst zum Zeit-punkt τ ”einzuschalten“.

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So sieht zum Beispieluπ/2(t) cos(t− π/2) aus: 2 4 6

-1-0.5

0.51

Satz 60 (Verschiebungssatz). Ist g(t) stuckweise stetig und von exponentieller Ordnung,so gilt

L[uτ (t)g(t− τ)](s) = e−τs L[g(t)](s).

Beweis. Es gilt

L[uτ (t)g(t− τ)](s) =∫ ∞

0

uτ (t)e−stg(t− τ)dt =∫ ∞

τ

e−stg(t− τ)dt,

und daraus folgt mit der Substitutionsregel

L[uτ (t)g(t− τ)](s) =∫ ∞

0

e−s(t+τ)g(t)dt = e−τs∫ ∞

0

e−stg(t)dt = e−τs L[g(t)](s).

Beispiel 61. Die Differentialgleichung

mx′′ + ax′ + bx = h(t) (52)

kann man interpretieren als Gleichung fur diegedampfte Schwingung einer Masse m an einer Federmit Federkonstante b und der ”Zwangskraft“ h(t).Wir nehmen an, dass a > 0 und a2− 4bm < 0. Dannhat die zugehorige homogene Gleichung die allgemei-ne Losung

��

x

m

x(t) = e−at/2m(c1 cosωt+ c2 sinωt), ω2 =b

m− a2

4m2.

Mit dem ublichen Trick kann man das auch schreiben als

x(t) = Ae−at/2m cosω(t− t0)

und sieht ganz deutlich, dass man eine gedampfte harmonische Schwingung erhalt. Anfangs-amplitude A und Phase t0 ergeben sich aus den Anfangsbedingungen.

Aufgabe: Wie sieht die Bewegung mit Anfangsbedin-gungen x(0) = x′(0) = 0 aus, wenn die Zwangskrafth(t) ein sehr kurzer Impuls (Fußtritt) zum Zeitpunktθ ≥ 0 ist:

hθ,τ (t) =

{1τ fur θ ≤ t ≤ θ + τ,

0 sonst,

mit sehr kleinem τ > 0.+τ

τ1_

θ θ

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Wir benutzen die Laplacetransformation. Es ist

L[hθ,τ ](s) =1τ

∫ θ+τ

θ

e−stdt =1−sτ

e−st∣∣∣∣θ+τθ

= e−sθ1− e−sτ

sτ.

Fur τ ↘ 0 geht der Quotient nach der Regel von Bernoulli-l’Hospital gegen 1:

limτ↘0

L[hθ,τ ](s) = e−sθ.

Wir haben

limτ↘0

hθ,τ (t) =

{0 fur t 6= θ

∞ fur t = θ.

Der ganz in θ konzentrierte Impuls ist also keine richtige mathematische Funktion mehr.Trotzdem versieht man ihn mit dem Symbol δθ(t) und nennt

δθ(t) die in θ zentrierte Diracfunktion

nach dem englischen Physiker P. A. Dirac (1902-1984), der zuerst solche ”verallgemeinerten“Funktionen untersucht hat. Es ist also

L[δθ] = e−sθ und insbesondere L[δ0] = 1.

Zuruck zu unserem Problem: Lose die Schwingungsgleichung (52) fur einen Einheitsimpuls

h(t) = δθ(t).

Wir schreiben ms2 + as + b = m((s + a2m )2 + ω2). Anwendung der Laplacetransformation

liefert wegen x(0) = x′(0) = 0

X(s) = e−sθ1

(ms2 + as+ b)(53)

= e−sθ1mω

ω

(s+ a2m )2 + ω2

= e−sθ1mω

L[e−at/2m sinωt](s)

= L[

1mω

uθ(t)e−a(t−θ)/2m sinω(t− θ)]

(s)

Dabei haben wir zum Schluß den Verschiebungssatz benutzt.Also erhalten wir

x(t) =1mω

uθ(t)e−a(t−θ)/2m sinω(t− θ). (54)

Das sieht dann so aus:θ= 3; a = 1; ω = 1; m = 3;x[t ] := If[t < θ, 0, Exp[-a(t - θ)/(2m)] Sin[ω(t - θ)]]Plot[x[t], {t, 0, 20}, AspectRatio − >.7,PlotStyle − > Thickness[0.01]]

5 10 15 20

-0.4

-0.2

0.2

0.4

0.6

0.8

Das in diesem Beispiel beschriebene Problem laßt sich mit den ”normalen“ Methoden nichtlosen, ja es laßt sich gar nicht richtig formulieren, weil eben die Diracfunktionen gar keineFunktionen sind. Ihre Laplacetransformierten sind hingegen uber jeden Zweifel erhaben, und

44

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deshalb ist die Laplacefunktion das ideale Werkzeug fur solche ”Schockprobleme“.

Die charakteristische Eigenschaft der Diracfunktion. Wir kommen noch einmal aufdie Diracfunktion zuruck. Ist f : [0,+∞[→ R stetig, so ist

limτ↘0

∫ +∞

0

hθ,τ (t)f(t) dt = limτ↘0

∫ θ+τ

θ

f(t) dt︸ ︷︷ ︸Mittelwert von f auf [θ, θ + τ ]

= f(θ),

Wir schreiben das als∫ +∞0

δθ(t)f(t)dt = f(θ) und wollen diese Gleichung noch etwas um-formulieren. Wegen δθ(t) = δ0(θ − t) =: δ(θ − t) gilt∫ +∞

0

δ(θ − t)f(t)dt = f(θ).

Setzt man f(t) = 0 fur t < 0, so ergibt sich, wenn wir noch die Rollen von t und θ vertauschen∫ +∞

−∞δ(t− θ)f(θ) dθ = f(t). (55)

Definition 62. Die Faltung f ∗ g zweier Funktionen f, g : R → C ist definiert durch

(f ∗ g)(t) :=∫ +∞

−∞f(t− θ)g(θ) dθ, t ∈ R,

falls dies Integral existiert.

Ist f(t) = g(t) = 0 fur t < 0, oder sind f und g nur auf [0,+∞[ definiert und setzt man siefur negative Werte mit 0 fort, so hat man

(f ∗ g)(t) =∫ ∞

−∞f(t− θ)g(θ)dθ =

∫ t

0

f(t− θ)g(θ)dθ.

Beispiel 63. Nach (55) ist alsoδ ∗ f = f. (56)

Satz 64 (Faltungssatz). Seien f(t), g(t) stuckweise stetig von exponentieller Ordnung.Dann gilt

L[f ∗ g] = L[f ] L[g].

Wegen der Injektivitat der Laplacetransformation folgt

Korollar 65.f ∗ g = g ∗ f. (57)

Beweis des Faltungssatzes.

L[∫ t

0

f(t− θ)g(θ)dθ]

=∫ ∞

0

(∫ t

0

f(t− θ)g(θ)dθ)e−stdt

=∫ ∞

t=0

∫ t

θ=0

e−stf(t− θ)g(θ)dθdt

=∫ ∞

θ=0

∫ ∞

t=θ

e−stf(t− θ)g(θ)dtdθ.

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Fur den letzten Schritt vergleiche die neben-stehende Skizze. Wir nehmen ohne Beweis an,dass diese Vertauschung der Integrationsrei-henfolge erlaubt ist.

� �� �

t

τ

Nun konnen wir die Rechnung mit der Substitution t− θ = x fortsetzen:∫ ∞

θ=0

∫ ∞

t=θ

e−stf(t− θ)g(θ)dtdθ =∫ ∞

θ=0

g(θ)∫ ∞

x=0

e−s(x+θ)f(x)dxdθ

=∫ ∞

θ=0

g(θ)e−sθdθ∫ ∞

x=0

e−sxf(x)dx

= L[f ] L[g].

Beispiel 66 (Greensche Funktion). Lose das Anfangswertproblem

y(n) + a1y(n−1) + . . .+ any = h(t) (58)

y(0) = y′(0) = . . . = y(n−1)(0) = 0

mit konstanten Koeffizienten und einer stuckweise stetigen Funktion h von exponentiellerOrdnung.

Die Laplacetransformation liefert mit Y := L[y] usw.

Y = (sn + a1sn−1 + . . .+ an)−1︸ ︷︷ ︸

=:G(s)

H.

Findet man also ein g(t), so dass L[g] = G(s),

so folgt aus dem Faltungssatz

y(t) = g ∗ h(t) =∫ t

0

g(t− θ)h(θ)dθ.

Die Funktion g(t− θ) =: K(t, θ) heißt auch die GREENsche Funktion fur das Anfangswert-problem. Hat man sie einmal gefunden, so ist die Losung von (66) fur verschiedene rechteSeiten auf eine Integration reduziert.

46

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8 Partielle Differentialgleichungen

Die partiellen Differentialgleichungen bilden ein sehr umfang- und anwendungsreiches Kapi-tel der Mathematik. Eine halbwegs systematische Theorie gibt es eigentlich nur fur spezielleKlassen oder Typen von Differentialgleichungen, und selbst bei Beschrankung auf einen Typwurde damit der Rahmen dieser Vorlesung bei weitem gesprengt.

Aufgrund der theoretischen Komplexitat ist die unspezifizierte direkte Behandlung partiellerDifferentialgleichungen mit mathematischer Software so gut wie unmoglich. Die meistenPD-Probleme lassen sich nur numerisch behandeln. Die Auswahl der richtigen numerischenVerfahren und deren Anwendung erfordern Kenntnis und Erfahrung. Glucklicherweise tretenje nach Anwendungsgebiet spezielle Typen partieller Differentialgleichungen auf, so dasssolche Erfahrung sich bei Mathematikern und Ingenieuren im jeweiligen Bereich ausbildenund sammeln kann.

Wir beschranken uns daher darauf, zunachst an der Warmeleitungs- oder Diffusionsgleichung

∂θ

∂t= D∆θ, (59)

gelegentlich auch an der Wellen- oder Schwingungsgleichung

∆u =1c2∂2u

∂t2(60)

einige fundamentale Methoden und Phanomene aus dem Bereich der partiellen Differential-gleichungen zu erlautern.

Fur eine umfangreichere Behandlung von weiteren Einzelbeispielen vergleiche man etwa

Meyberg/Vachenauer, Hohere Mathematik 2, Springer 1991, Kapitel 12.

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8.1 Separation und Superposition, Anfangswertprobleme

• Wir lernen ein auf Euler und Bernoulli zuruckgehendes Verfahren zum Auffinden vonLosungen, den sogenannten Separationsansatz kennen,

• sammeln Informationen uber die Menge aller Losungen und

• untersuchen, welche zusatzlichen Daten eine Losung eindeutig festlegen.

Vergleichen Sie Energie-, Impuls- und Stofftransport, Abschnitt 2.3.5.

Im folgenden schreiben wir, wie vielfach in den Anwendungen ublich, die partiellen Ablei-tungen vereinfachend als unteren Index.

Spezialisierung. Wir beschranken uns der Einfachheit halber auf eine Raumdimension,haben also die Gleichung

θt = Dθxx (61)

fur eine gesuchte Funktion θ = θ(x, t).4

Offenbar konnen wir uns auf die Gleichung

θt = θxx (62)

beschranken, denn man rechnet sofort nach, dass fur θ(x, t) = θ( x√D, t) gilt:

θt = θxx ⇐⇒ θt = Dθxx.

Der Separationsansatz. Wir nehmen an, dass θ ein Produkt von Funktionen von jeweilsnur einer Variablen, also von folgender Form ist:

θ(x, t) = X(x)T (t). (63)

Diese Annahme oder dieser Ansatz ist eigentlich nur dadurch motiviert, dass er erfolgreichist, namlich Losungen liefert. Es ist nicht wahr, dass er alle Losungen liefert, es gibt auchLosungen (vgl. unten), die sich keineswegs in der Form (63) schreiben lassen.

Bei drei Raumvariablen macht man entsprechend den Ansatz θ(x, y, z, t) = X(x)Y (y)Z(z)T (t).

Wir setzen den Ansatz in die Differentialgleichung (62) ein:

X(x)T (t) = X ′′(x)T (t).

Wir nehmen weiter an, dass θ keine Nullstelle hat, und dividieren durch θ = XT . Wirerhalten

T (t)T (t)

=X ′′(x)X(x)

.

Nun sind die Variablen separiert (=getrennt): die linke Seite hangt nur von t, die rechte nurvon x ab. Andert man t, so bleibt die rechte Seite und deshalb auch die linke Seite konstant.

T (t)T (t)

= µ =X ′′(x)X(x)

4Das entspricht physikalisch zum Beispiel der Warmeleitung in einem Stab, oder im Raum um eine(unendlich ausgedehnte) Platte in der yz-Ebene, wenn man Homogenitat parallel zu der Platte annimmt, sodass von den raumlichen Koordinaten nur der Abstand von der Platte eine Rolle spielt.

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mit einer Konstanten µ, die einstweilen eine beliebige reelle Zahl sein kann (Separationskon-stante). Wir erhalten zwei gewohnliche Differentialgleichungen

T = µT.

undX ′′ = µX.

Die erste hat Losungen T (t) = Aeµt. Wir betrachten zunachst ein Abkuhlungsproblem,stellen uns also vor, dass die Warme sich in dem (unendlichen) Medium verteilt und dieTemperatur an einem festen Punkte mit der Zeit abnimmt. Daher nehmen wir an, dass

µ = −ν2, ν ∈ R,

negativ ist. Wir findenT (t) = C e−ν

2t.

Die zweite Gleichung X ′′ = −ν2X hat Losungen

X(x) = A cos νx+B sin νx, A,B ∈ R

und unser Ansatz liefert

θ(x, t) = e−ν2t(A cos νx+B sin νx)

mit beliebigen A,B ∈ R.

Da wir nicht wissen, ob es uberhaupt Losungen (ohne Nullstellen) der Form (63) gibt, istnicht klar, ob unsere Uberlegungen inhaltlich irgendeinen Sinn haben und ob das gefundeneθ eine Losung der Warmeleitungsgleichung ist. Aber eine Probe (Differenzieren!) zeigt, dasswir tatsachlich (fur alle A,B und ν) eine Losung gefunden haben.

Wenn wir von dem physikalischen Problem ausgehen, die zeitliche Warmeentwicklung ineinem beidseitig unendlich ausgedehnten eindimensionalen Warmeleiter zu beschreiben, sindwir mit dieser Losung allerdings sicher noch nicht am Ziel. So hat die Losung zur Zeit t = 0eine raumlich periodische Cosinusverteilung, die mit der realen Situation zur Zeit t = 0vielleicht gar nichts zu tun hat. Daruber gleich mehr.

Die Wellengleichung (60) laßt sich auf dieselbe Weise separieren. In diesem Fall erhalten wirbei passender Wahl der Separationskonstanten auch in der Zeitkomponente eine harmonischeSchwingung.

Superposition. Die Warmeleitungsgleichung wie die Wellengleichung sind offenbar homo-gene lineare Differentialgleichungen, und deshalb sind Linearkombinationen von Losungenwieder Losungen, es gilt das Superpositionsprinzip. Fur verschiedene Werte von ν sind diegefundenen Losungen

e−ν2t cos ν x und/oder e−ν

2t sin ν x

linear unabhangig.

Im Gegensatz zu den linearen gewohnlichen Differentialgleichungen isthier also der Losungsraum offenbar unendlich-dimensional!

Dieser Umstand macht die Theorie der partiellen Differentialgleichung viel schwieriger alsdie der gewohnlichen.

Linearkombinationen

θ(x, t) =K∑k=0

e−ν2kt(Ak cos νkx+Bk sin νkx)

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sind wieder Losungen von (62), aber auch unendliche Linearkombinationen

θ(x, t) =∞∑k=0

e−ν2kt(Ak cos νkx+Bk sin νkx) (64)

liefern Losungen, wenn sie eine differenzierbare Funktion darstellen. Fur t = 0 findet mandie Anfangsbedingung

θ(x, 0) =∞∑k=0

Ak cos νkx+Bk sin νkx.

Man kann also zum Beispiel zu einer vorgegebenen T -periodischen Anfangsbedingung θ(x, 0)durch Fourierentwicklung mit νk = k 2π

T die Koeffizienten Ak, Bk bestimmen und so ei-ne Losung des Anfangswertproblems finden. Periodische Anfangsbedingungen sind aller-dings eher unwahrscheinlich, aber dieselbe Methode kommt bei Randwertproblemen in be-schrankten Bereichen zum Tragen. Fur nicht-periodische Anfangswerte muß man den Begriffder Linearkombination noch allgemeiner fassen: Man kann das Summenzeichen durch einekontinuierliche Integration ersetzen5: Auch

θ(x, t) =∫ +∞

−∞C(ν)e−ν

2t cos(νx) dν

liefert bei guter Konvergenz eine Losung. Das gilt insbesondere fur

θ(x, t) :=∫ +∞

−∞e−ν

2t cos(νx) dν, t > 0.

Dieses Integral kann man uberraschenderweise explizit auswerten. Die dazu erforderlicheetwas trickreiche Uberlegung wollen wir hier vormachen, weil sie wesentlich ist fur die Ver-bindung zwischen dem Separationsansatz und anderen Losungsmethoden.

Wir berechnen

∂xθ(x, t) =

∫ +∞

−∞e−ν

2t(−ν) sin(νx)dν =∫ +∞

−∞

12t∂e−ν

2t

∂νsin(νx)dν.

Darauf wenden wir partielle Integration an:

∂xθ(x, t) =

12te−ν

2t sin(νx)∣∣∣ν=∞ν=−∞︸ ︷︷ ︸

=0

− 12t

∫ +∞

−∞e−ν

2tx cos(νx)dν =x

2tθ(x, t).

Betrachten wir fur festes t > 0 die Funktion y(x) := θ(x, t), so erfullt diese alsodie Differentialgleichung

y′ = − x

2ty.

Deren Losungen sind aber leicht zu erraten:

θ(x, t) = y(x) = C(t)e−x24t .

Den Faktor C(t) bestimmen wir, indem wir die Definition von θ ansehen undx = 0 setzen:

C(t) =∫ +∞

−∞e−ν

2tdν =1√t

∫ +∞

−∞e−ξ

2dξ =

√π

t.

(Das Integral∫ +∞−∞ e−ξ

2dξ =

√π wird im Modul Analysis II fur Ing. ausgerech-

net.)5In den weiteren Uberlegungen geht es nicht darum, alle Losungen zu finden. Deshalb beschranken wir

uns auf Cosinusterme.

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Wir erhalten durch Superposition von ”Separationslosungen“ also eine Losung

θ(x, t) =√π

te−

x24t , t > 0. (65)

die sehr anders als die typische Separationslosung

θsep(x, t) = e−ν2t cos(νx) (66)

aussieht und ganz gewiß nicht mehr von der Form X(x)T (t) ist.

Die Anfangsbedingung θsep(x, 0) war eine etwas exotisch erscheinende raumliche Cosinus-Verteilung. Die Anfangsbedingung θ(x, 0) hingegen macht zunachst gar keinen Sinn: Wirbrauchten t > 0.

Grundlosung der Warmeleitungsgleichung. Mit der Regel von de l’Hospital findet manfur die obige Losung θ

limt↘0

θ(x, t) = 0, x 6= 0.

Offenbar ist also zur Zeit t = 0 die ganze Warme in x = 0 konzentriert. Das untersuchenwir genauer fur die etwas umnormierte Losung θ = 1

2π θ:

θ(x, t) :=1

2√πte−

x24t . (67)

Fur festes positives t ist der Graph dieser Funktion von x eine Gaußsche Fehlerkurve

x

mit Gesamtintegral = 1, deshalb die Umnormierung. Fur t↘ 0 konzentriert sich der Buckelim Punkt 0, so dass man die Losung (67) als die Temperaturverteilung interpretieren kann,bei der eine Warmeeinheit zur Zeit t = 0 im Punkt x = 0 konzentriert ist, wahrend in allenubrigen Punkten θ = 0 ist.

Eine solche ”Funktion“, die uberall = 0 und nur in 0 so groß ist, dass das Integral = 1 ergibt,ist keine Funktion im strengen Sinne, sondern eine sogenannte verallgemeinerte Funktion.Man nennt sie die Diracsche Deltafunktion.

Die anfangs in 0 zentrierte Losung (67) heißt die Grundlosung oder Fundamentallosung derWarmeleitungsgleichung.

Allgemeines Anfangswertproblem fur die Warmeleitungsgleichung. Wie sieht dieTemperaturentwicklung fur eine vorgegebene Verteilung

θ(x, 0) = θ0(x)

aus? Fur jedes ξ ∈ R ist

e−(x−ξ)2

4t

2√πt

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ebenfalls eine Losung von (62), die in ξ konzentrierte Grundlosung (Nachrechnen!). DurchSuperposition dieser Grundlosungen mit Gewichtung θ0 erhalt man die Losung des ebenformulierten Anfangswertproblems: Die Funktion

θ(x, t) :=∫ +∞

−∞θ0(ξ)

e−(x−ξ)2

4t

2√πt

ist offenbar wieder eine Losung (Differentiation unter den Integral) und man kann zeigen(muhsam), dass

limt↘0

θ(x, t) = θ0(x).

Zusammenfassung. Wir haben gesehen:

• Der Separationsansatz liefert viele aber keineswegs alle Losungen der Warmeleitungs-gleichung. Genauer erhalt man unendlich viele linear unabhangige Losungen.

• Durch Superposition von Separationslosungen erhalt man weitere (und in gewissemSinne sogar alle) Losungen.

• Betrachtet man das Problem der Warmeleitung in einem beidseitig unendlich langenStab oder auch in einem dreidimensionalen allseits unbeschrankten Medium, so scheintes physikalisch plausibel, dass man eine (ziemlich willkurliche) Anfangsverteilung derTemperatur vorgeben kann und dann eine eindeutig bestimmte Losung erhalt. Be-trachtet man hingegen die Temperaturentwicklung in einem kompakten Bereich (z.B.in einem Reaktor), so wird man zusatzlich Randbedingungen spezifizieren mussen.Zum Beispiel kann der Rand gekuhlt oder isoliert sein. Im allgemeinen hat man alsozu der Warmeleitungsgleichung noch Rand- und Anfangsbedingungen hinzuzufugen,um die Losung eindeutig festzulegen. 6 Darauf gehen wir im nachsten Abschnitt ein.

6Auch im unbeschrankten Fall haben wir Randbedingungen”im Unendlichen“, die wir bereits anfangs

durch die Beschrankung auf µ = −ν2 eingebaut haben.

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8.2 Rand-Anfangswert-Probleme

• Losungen von partiellen Differentialgleichungen werden erst durch zusatzliche Vorga-ben wie Randbedingungen und Anfangsbedingungen eindeutig festgelegt.

• Wir skizzieren an einem einfachen Fall, wie man aus der Fulle der moglichen Losungendie konstruiert, die solche Zusatzbedingungen erfullen.

In diesem Abschnitt wollen wir beispielhaft ein einfaches Rand-Anfangswert-Problem fur dieWarmeleitungsgleichung behandeln, namlich das Problem

θt = θxx,

θ(0, t) = a, θ(π, t) = b, (68)θ(x, 0) = θ0(x)

Physikalisch ist das also die Temperaturentwicklung in einem Stab der Lange π, dessenEnden auf konstanter Temperatur a bzw. b gehalten werden, und dessen Temperaturvertei-lung zur Zeit t = 0 durch eine Funktion θ0(x) vorgegeben ist, die naturlich θ0(0) = a undθ0(π) = b erfullen muß.

Wir beginnen aber mit einem noch einfacheren Spezialfall, namlich mit homogenen (adia-baten) Randbedingungen

θ(0, t) = 0 = θ(π, t). (69)

Mit dem Separationsansatz haben wir (unter anderem) Losungen der Differentialgleichungin der Form

e−ν2t sin νx

mit beliebigem reellen ν bekommen. Betrachten wir nur solche mit ganzzahligem ν ∈ Z, soerfullen diese automatisch die Randbedingungen (69). Also erfullen die zweimal differenzier-baren Funktionen der Form

∞∑k=1

Bke−k2t sin kx

die Differentialgleichung, die Randbedingungen und durch die Anfangsbedingung∞∑k=1

Bk sin kx = θ0(x)

werden die Koeffizienten Bk als Fourierkoeffizienten bestimmt:

Bk =2π

∫ π

0

θ0(x) sin kx dx.

Nun zum ursprunglichen Problem mit inhomogenen Randbedingungen (68). Entscheidendist die Beobachtung, dass mit θ(x, t) auch

θ(x, t) = θ(x, t)− (αx+ β)

eine Losung der Warmeleitungsgleichung ist, weil die t-Ableitung und die doppelte x-Ableitungvon αx + β verschwinden. Ist also θ(x, t) eine (wie oben gewonnene) Losung des Rand-Anfangswert-Problems mit homogenen Randbedingungen zu der Anfangswertfunktion

θ0(x) = θ0(x)− b− a

πx− a,

so lostθ(x, t) = θ(x, t) +

b− a

πx+ a

das Problem (68).

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8.3 Methode der Laplacetransformation

• Bei linearen partiellen Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten kann manversuchen, durch Anwendung der Laplacetransformation auf eine der Variablen dieZahl der (abgeleiteten) Variablen zu reduzieren. Im Fall von zwei Variablen fuhrt dasdann auf eine gewohnliche Differentialgleichung.

Wir fuhren das an zwei Beispielen vor. Das erste hat vermutlich keine physikalische Bedeu-tung, aber die Mathematik ist einfach.

Beispiel 67. Lose das Rand-Anfangswertproblem

ut + xux = xt, u(x, 0) = 0 = u(0, t).

Wir bezeichnen die Laplacetransformierte von u bezuglich t mit

U(x, s) :=∫ +∞

0

u(x, t)e−stdt.

Dann erhalten wirsU(x, s)− u(x, 0)︸ ︷︷ ︸

=0

+xUx(x, s) =x

s2.

Wir betrachten dies fur festes s als Differentialgleichung in x und machen nach kurzemNachdenken den Ansatz

U(x, s) = Cx

Einsetzen liefert (sC + C)x = xs2 , also C = 1

s2(s+1) . Damit erhalten wir

U(x, s) =x

s2(s+ 1)=

x

s2− x

s+

x

s+ 1.

Die Rucktransformation liefert nun

u(x, t) = xt− x+ x e−t = x(e−t − 1 + t).

Das zweite Beispiel liefert wieder die Warmeleitungsgleichung. Hier wird die Mathematikschwierig.

Beispiel 68 (Warmeleitung und Laplacetransformation).Energie-, Impuls- und Stofftransport, Abschnitt 2.3

Wir betrachten die Temperaturentwicklung in einer feuerhemmenden Wand, die durch Brandauf der Außenseite x = b aufgeheizt wird. Wie sieht der Temperaturanstieg auf der Innenseitex = 0 aus? Wir betrachten die Warmeleitungsgleichung

θt = θxx

mit der Anfangsbedingungθ(x, 0) = 0

und den Randbedingungen

∂θ

∂x(0, t) = 0 adiabate Oberflache

undθ(b, t) = θb.

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Laplacetransformation bezuglich t liefert fur

u(x, s) = L[θ(x, t)](s) =∫ ∞

0

θ(x, t)e−stdt

bei Verwendung der Anfangsbedingung die Gleichung

d2u

dx2− su = 0.

Dabei betrachten wir s als Parameter und unterstreichen das durch die Verwendung von ddx

statt ∂∂x . Diese Gleichung ist leicht zu losen:

u(x, s) = A(s)e−x√s +B(s)ex

√s.

Die Koeffizienten A und B konnen dabei naturlich von dem Parameter s abhangen!Die Randbedingungen liefern nach Laplacetransformation

du

dx(0, s) = 0, u(b, s) =

θbs

und bestimmen damit A und B:

u(x, s) =θbs

e−x√s + ex

√s

e−b√s + eb

√s.

Wir interessieren uns fur x = 0:

u(0, s) =θbs

2e−b

√s + eb

√s

=2θbe−b

√s

s

11 + e−2b

√s

Die Rucktransformation dieser Funktion ist nicht einfach, Mathematica zum Beispiel ver-sagt den Dienst. In Energie-, Impuls- und Stofftransport wird der zweite Faktor in einegeometrische Reihe entwickelt:

u(0, s) =2θb e−b

√s

s(1− e−2b

√s + e−4b

√s − e−6b

√s + . . .)

= 2 θb

(e−b

√s

s− e−3b

√s

s+− . . .

)

Die Rucktransformation

L−1

[e−αb

√s

s

]= erfc(

b

2√t)

ist immer noch schwierig. Die Funktion erfc(x) = 1−erf(x) ist die sogenannte komplementareGaußsche Fehlerfunktion.Die Funktion

erf(x) =2√π

∫ x

0

e−t2dt

hatten Sie in der Analysis II kennengelernt. Damals wurde auch festgestellt, dass θ(x, t) :=erf( x

2√λt

) eine Losung der Warmeleitungsgleichung θt = λθxx liefert.

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8.4 Ebene-Wellen-Losungen der Wellengleichung

• Wir diskutieren fur die Wellengleichung in beliebiger Raumdimension n einen ganzanderen Losungsansatz.

Die Wellengleichungutt = c2 ∆u (70)

beschreibt die Ausbreitung von Wellen in einem isotropen Medium.

Man kann sie mit denselben Methoden behandeln, die wir bisher fur die Warmeleitungs-gleichung betrachtet haben. Sie gestattet jedoch eine andere, von D’Alembert entdeckte,sehr einfach hinzuschreibende und physikalisch bedeutungsvolle Klasse von Losungen, aufdie wir jetzt eingehen.

Wenn wir an den raumlich eindimensionalen Fall denken, kann man damit die verzerrungs-freie Ubertragung von beliebigen Signalen durch einen verlustfreien Kanal beschreiben. All-gemeiner sollte in der zweidimensionalen Ebene die gerichtete Ausbreitung von ”geraden“Wellen beliebigen Profils und im dreidimensionalen Raum die von ebenen Wellenfrontenmoglich sein. Das beschreibt das nachste Beispiel.

Beispiel 69 (Ebene Wellen). Fur (60) machen wir folgenden Ansatz

u(~x, t) = f(~k · ~x− ct) (71)

mit einem festen Vektor ~k ∈ Rn. Einsetzen in die Gleichung liefert

0 = ∆u− 1c2∂2u

∂t2=∑

k2i f′′(~k · ~x− ct)− f ′′(~k · ~x− ct) = (

∑k2i − 1)f ′′(~k · ~x− ct).

Wir sehen, dass (71) fur beliebige zweimal differenzierbare Funktionen f eine Losung liefert,wenn nur

∑k2i = 1, d.h ~k ein Einheitsvektor ist.

Die Interpretation dieses Sachverhalts ist die folgende. Die Funktion f beschreibt das Profil(Amplitude) einer Welle. Weil fur feste Zeit t die Amplitude f(~k · ~x − ct) senkrecht zu ~kkonstant ist, hat man (bei n = 3) ebene Wellenfronten, die sich unverzerrt (=dispersionsfrei)mit der Geschwindigkeit c in Richtung ~k ausbreiten.

t=01

1_ct= x

x

f(k x-ct)

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8.5 Separation in Zylinder- und Kugelkoordinaten

• Wir behandeln symmetrische DGL-Probleme durch den Einsatz angepasster Koor-dinatensysteme, wobei die Grundidee nach wie vor der Eulersche Separationsansatzist.

• Wir stoßen dann nicht nur auf Sinusgleichungen, sondern auf kompliziertere gewohnlicheDifferentialgleichungen, mit denen wir uns anschließend beschaftigen wollen.

Zur Abwechslung betrachten wir nicht die Warmeleitungsgleichung, sondern die Wellenglei-chung, dieselben Methoden kann man fur beide anwenden, vergleichen Sie Energie-, Impuls-und Stofftransport, Abschnitt 2.3.4.4.

Zylinderkoordinaten. Wir untersuchen ein schwingendes Medium in einem Kreiszylinder.

Wir schreiben die Wellengleichung in Zylinderkoordinaten:

∆u =∂2u

∂ρ2+

∂u

∂ρ+

1ρ2

∂2u

∂φ2+∂2u

∂z2=

1c2∂2u

∂t2. (72)

Wir machen einen Produktansatz

u(ρ, φ, z, t) = R(ρ)Φ(φ)Z(z)T (t).

Einsetzen in die Differentialgleichung und Division mit u liefert

R′′(ρ)R(ρ)

+1ρ

R′(ρ)R(ρ)

+1ρ2

Φ′′(φ)Φ(φ)

+Z ′′(z)Z(z)

=1c2T ′′(t)T (t)

.

Wie im letzten Abschnitt folgt daraus T ′′(t) = c2const · T (t) =: −ω2T (t), wobei ω2 positivoder negativ, d.h. ω reell oder rein imaginar sein kann.

Weiter ist Z ′′(z) = −h2Z(z) mit einer (ebenfalls positiven oder negativen) Konstanten h2.Dies liefert die Gleichungen

T ′′(t) + ω2T (t) = 0, Z ′′(z) + h2Z(z) = 0. (73)

Weiter sehen wir, dassR′′(ρ)R(ρ)

+1ρ

R′(ρ)R(ρ)

+1ρ2

Φ′′(φ)Φ(φ)

= −µ2

fur eine Konstante µ2 mit

µ2 =ω2

c2− h2. (74)

Es folgt

ρ2R′′(ρ)R(ρ)

+ ρR′(ρ)R(ρ)

+ µ2ρ2 +Φ′′(φ)Φ(φ)

= 0.

Wir finden

Φ′′(φ) + λ2Φ(φ) = 0 (75)

und

ρ2R′′(ρ)R(ρ)

+ ρR′(ρ)R(ρ)

+ µ2ρ2 − λ2 = 0. (76)

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Weil φ eine Winkelkoordinate in der Ebene ist, muß Φ die Periode 2π haben. Also ist λ2 > 0.Die komplexe Losungsbasis von (75) ist e±iλφ, so dass also notwendig

λ ∈ Z

ganzzahlig sein muß.

Wir wenden uns nun der Gleichung fur R zu: Aus (76) erhalten wir

ρ2R′′(ρ) + ρR′(ρ) +(µ2ρ2 − λ2

)R(ρ) = 0. (77)

Das ist eine homogene lineare Differentialgleichung, aber keine mit konstanten Koeffizienten.Wir setzen

y(x) = R(x

µ).

Dann isty′(x) =

1µR′(

x

µ), y′′(x) =

1µ2R′′(

x

µ).

Mit der Substitution x = ρµ ist die Gleichung (77) also aquivalent zu

x2y′′(x) + xy′(x) + (x2 − λ2)y(x) = 0. (78)

Das ist die sogenannte Besselgleichung, die wir im nachsten Abschnitt untersuchen werden.Ihre Losungen heißen aus einsichtigen Grunden auch Zylinderfunktionen. Die Gleichung hatfur jedes ganzzahlige λ (bis auf Vielfache genau) eine bei 0 beschrankte Losung

Jλ(x) = Jλ (ρµ) ,

die sogenannte Besselfunktion 1. Art zum Index λ.

Unser Separationsansatz liefert uns also die Gleichungen (73), (75), (76) mit Losungen, diein der einfacheren komplexen Form so aussehen

T (t) = eiωt, Z(z) = eihz, Φ(φ) = eiλφ, R(ρ) = Jλ(ρµ). (79)

Daraus ergeben sich mit dem Separationsansatz fur unsere Wellengleichung die Losungen

u(ρ, φ, z, t) = Jλ(ρµ)ei(λφ+hz+ωt) (80)

mit den folgenden Bedingungen fur die Separationskonstanten:

µ2 =ω2

c2− h2 und λ ∈ Z. (81)

Wir wollen die Losungen der Form (80) noch etwas veranschaulichen. Wir wahlen dabei

λ = 3, ω = µ = 1, h = 0,

so dass die Losung nicht von z abhangt. Wir betrachten eine Momentaufnahme zur Zeitt = 0. Weiter ersetzen wir eiφ durch einen reellen Cosinusterm. Wir erhalten damit

v(ρ, φ) = J3(ρ) cosφ.

Wir betrachten einen Schnitt durch den Graphen v in der (ρ, v)-Ebene und einen Blick vonoben auf diesen Graphen. Beim zweiten Bild haben wir aber die Bereiche mit |v| > 0.1weggeschnitten. Dadurch erscheinen Locher, deren Rander gerade die Niveaulinien v = −0.1bzw v = +0.1 sind. Die Vorzeichen wechseln sich dabei in ρ- wie in φ-Richtung ab.

58

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u

ρ

Erzeugt wurden diese Bilder wie folgt:

In[36]:= a=.1;u[r ,phi ]:= BesselJ[3,r] Cos[3 phi];Plot[u[r,0],r,0,22.6];ParametricPlot3D[{r Cos[phi],r Sin[phi],u[r,phi]},{r,0,22.6},{phi,0,Pi},PlotRange− >{-a,a},Axes− > False,Boxed− >False,ViewPoint− >{0,0,1},PlotPoints− >{30,20}];

Kugelkoordinaten. In Kugelkoordinaten sieht die Wellengleichung so aus:

∆u =∂2u

∂r2+

2r

∂u

∂r+

1r2 sin2 θ

∂2u

∂φ2+

1r2 sin θ

∂(sin θ ∂u∂θ )∂θ

=1c2∂2u

∂t2. (82)

Der Separationsansatz

u(r, θ, φ, t) = R(r)Θ(θ)Φ(φ)T (t)

fuhrt ahnlich wie oben zu folgenden gewohnlichen Differentialgleichungen:

T ′′ + ω2T = 0 (83)

Φ′′ +m2Φ = 0 (84)

r2R′′ + 2rR′ + (r2ω2

c2− ν2)R = 0 (85)

Θ′′ + cot θΘ′ − (m2

sin2 θ− ν2)Θ = 0 (86)

mit Konstanten ω, ν und m. Weil die Losung in φ offensichtlich 2π-periodisch sein muß, mußm ganzzahlig sein.

Die Gleichung (85) reduziert sich im Fall ω = 0 auf

r2R′′ + 2rR′ − ν2R = 0.

Weil die r-Potenz der Faktoren gleich der Ableitungsordnung ist, liegt ein Ansatz R(r) = rk

nahe. Er liefert Losungen genau dann, wenn ν2 = k(k + 1).

Im Fall ω 6= 0 setzen wir x = ωc r und y(x) =

√xR(r). Mit diesen Substitutionen wird (85)

zur oben schon aufgetretenen Besselgleichung (78) mit λ2 = ν2 + 14

x2y′′ + xy′ +(x2 − (ν2 +

14

))y = 0.

59

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Aus ihren Losungen erhalt man also mit R(r) = y(ωc r)/√

ωc r den radialen Anteil im Pro-

duktansatz.

Wir untersuchen nun noch (86). Hier machen wir die Variablensubstitution

x = cos θ, Θ(θ) = y(x) = y(cos θ)

Dann wird

Θ′(y) = −y′(cos θ) sin θ

Θ′′(θ) = y′′(cos θ) sin2 θ − y′(cos θ) cos θ.

Einsetzen in die Differentialgleichung gibt

(x2 − 1)y′′ + 2xy′ +(

m2

1− x2− ν2

)y = 0. (87)

Das ist die sogenannte allgemeine Legendregleichung. Ihre Losungen heißen Legendre- oderKugelfunktionen. Aus ihnen erhalt man also vermoge Θ(θ) = y(cos θ) den θ-Anteil fur denProduktansatz. Wenn die Losung u aber auf der z-Achse, also fur θ = 0 und θ = π auchdifferenzierbar sein soll, so gibt dies eine Bedingung an die Losungen von (87) an den Stellenx = ±1. Diese ist nur erfullt, wenn ν2 = k(k+ 1) mit ganzzahligem k ≥ m ist. Dabei kommtdem Fall m = 0 eine besondere Bedeutung zu. Dann wird (87) zur Legendregleichung imengeren Sinne

(x2 − 1)y′′ + 2xy′ − k(k + 1)y = 0. (88)

Vergleichen Sie dazu den Anhang.

60

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Wir betrachten noch einmal das obige Ergebnis fur die Wellengleichung in Zylinderkoordi-naten und schließen mit einem

Beispiel 70 (Ein Rand-Anfangswert-Problem im Zylinder). Die Gleichung

∆u =1c2∂2u

∂t2

hat Losungen, die in Zylinderkoordinaten gegeben sind durch

u(ρ, φ, z, t) = Jλ(ρµ)ei(λφ+hz+ωt)

mit den folgenden Bedingungen fur die Separationskonstanten:

µ2 =ω2

c2− h2 und λ ∈ Z.

Dabei war Jλ eine sogenannte Besselfunktion 1. Art zum Index λ.

Wir beschreiben nun eine typische physikalische Situation, die eine eindeutig bestimmteLosung erwarten laßt:

1. Randbedingungen. Wir spezifizieren zunachst einen Zylinder vom Radius 1 und derHohe π

{(x, y, z) ∈ R3 |x2 + y2 ≤ 1 und 0 ≤ z ≤ π}

und verlangen, dass das schwingende Medium am Rand des Zylinders fixiert ist. (Ge-erdeter Rand bei elektromagnetischer Schwingung. Bei der Warmeleitung entsprichtdas einer Kuhlung auf konstante Temperatur 0 am Rand).

Im mathematischen Modell formulieren wir das als Randbedingungen

u(1, φ, z, t) = u(ρ, φ, 0, t) = u(ρ, φ, π, t) = 0. (89)

Von den oben angegebenen Separationslosungen kommen dann nur noch die in Frage,fur die

(a) die reelle Z-Losung durch

Z(z) = sin(hz) mit ganzzahligem h ∈ Z

gegeben ist,

(b) fur die radiale KomponenteJλ(µ) = 0

ist. Nun werden wir sehen, dass Jλ unendlich viele positive Nullstellen jλ;n mitn = 1, 2, 3, . . . hat. Wir erinnern an (81) und setzen zu gewahlten h ∈ N undn ∈ N

ω2λ,n,h = c2(j2λ;n + h2)

Zusammenfassend erhalten wir also fur jede ganzzahlige Wahl von λ, h und n eineLosung

uλ,n,h(ρ, φ, z, t) = Jλ(ρjλ;n) sin(hz)ei(λφ+ωλ,n,ht)

des Randwertproblems. Superposition solcher Losungen ist wieder eine Losung desRandwertproblems.

61

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2. Anfangsbedingungen. Aus physikalischen Grunden sollte die Schwingung im Zylin-der eindeutig festgelegt sein, wenn man außerdem noch den Schwingungszustand zurZeit t = 0 vorgibt. Das fuhrt auf Anfangsbedingungen

u(ρ, φ, z, 0) = u0(ρ, φ, z),∂u

∂t(ρ, φ, z, 0) = u1(ρ, φ, z)

mit vorgegebenen Funktionen u0(ρ, φ, z) und u1(ρ, φ, z), die die Anfangsbedingungenerfullen. Bei beliebig vorgegebenen u0, u1 wird keine der obigen ”Separationslosungen“die Anfangsbedingungen erfullen. Aber weil die Differentialgleichung homogen linearist, sind Linearkombinationen dieser Separationslosungen wieder Losungen. Man kanndeshalb den Ansatz

u(ρ, φ, z, t) =∑

λ,n,h∈Zcλ,n,huλ,n,h(ρ, φ, z, t)

machen und versuchen, wie bei gewohnlichen linearen Differentialgleichungen die Ko-effizienten cλ,n,h so zu bestimmen, dass die Anfangsbedingungen erfullt werden.

Ob das geht, und wie man das macht, darauf gehen wir im Abschnitt 10 ein.

62

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9 Die Besselsche Differentialgleichung

• Im vorangehenden Abschnitt haben wir gesehen, dass die Separation der Diffusionsglei-chung bei Verwendung von Zylinder- oder Kugelkoordinaten auf gewisse komplizierteregewohnliche Differentialgleichungen fuhrt.

• Fur eine von ihnen, die Besselgleichung, finden wir eine modifizierte Potenzreihenlosungund diskutieren deren Eigenschaften.

• Die Losung der Legendregleichung finden Sie im Anhang.

• Wir untersuchen das Verhalten der Losungen in großerer Entfernung von der Quelle,ihr asymptotisches Verhalten.

Die Besselsche Differentialgleichung ist gegebendurch

x2y′′ + xy′ + (x2 − λ2)y = 0. (90)

Die Gleichung ist linear und homogen, aber die Ko-effizienten sind nicht konstant, sondern Polynome inx. Wenn man die Gleichung so normiert, dass derKoeffizient von y′′ zu 1 wird, sind sie rationale Funk-tionen in x. Fur die allgemeine Losung auf dem In-tervall x > 0 brauchen wir nach der Theorie zweilinear unabhangige Losungen.

Wir werden im folgenden eine Losungsmethode fur diese Differentialgleichung vorstellen.Im Anhang Abschnitt 11.6 finden Sie das Verhalten der Losungen (=Besselfunktionen) be-schrieben. Diese Untersuchungen sind an der Besselgleichung exemplarisch fur eine großereKlasse von Differentialgleichungen vorzufuhren.

Es scheint nicht ganz abwegig, versuchsweise y als Polynom anzusetzen. Wenn das vom Gradn ist, so sind x2y′′ und xy′ auch vom Grad n. Allerdings ist (x2−λ2)y dann vom Grad n+2,so dass dieser Ansatz nicht klappen wird. Stattdessen kann man versuchen y als Potenzreiheanzusetzen, dann ist man das Grad-Problem los. Der Versuch zeigt, dass die Rechnungeneinfacher werden durch den Ansatz

y(x) = xλ∞∑k=0

bkxk,

weil das λ2 in der Differentialgleichung kompensiert werden muß.

Wir wollen diesen Ansatz in die Differentialgleichung einsetzen und berechnen dazu zunachstdie Ableitungen:

y′(x) = λxλ−1∞∑k=0

bkxk + xλ

∞∑k=0

kbkxk−1.

Beachten Sie: Bei der Differentiation der Potenzreihe fallt der konstante Term weg. Wirkonnen aber die Summe trotzdem bei 0 beginnen lassen, weil der Faktor k = 0 denselbenEffekt hat. Ebenso findet man

y′′(x) = λ(λ− 1)xλ−2∞∑k=0

bkxk + 2λxλ−1

∞∑k=0

kbkxk−1 + xλ

∞∑k=0

k(k − 1)xk−2.

63

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Bevor wir dies in die Differentialgleichung einsetzen, betrachten wir noch den dann entste-henden Term

x2y(x) =∞∑k=0

bkxk+2 =

∞∑k=2

bk−2xk.

Wir mochten auch diese Summe von 0 beginnen lassen, und definieren daher die bisher nochnicht vorkommenden Koeffizienten durch

b−2 := b−1 := 0.

Nun setzen wir ein:

0 =x2

(λ(λ− 1)xλ−2

∞∑k=0

bkxk + 2λxλ−1

∞∑k=0

kbkxk−1 + xλ

∞∑k=0

k(k − 1)bkxk−2

)

+ x

(λxλ−1

∞∑k=0

bkxk + xλ

∞∑k=0

kbkxk−1

)+ x2xλ

∞∑k=0

bkxk − λ2xλ

∞∑k=0

bkxk

=xλ∞∑k=0

(λ(λ− 1)bk + 2λkbk + k(k − 1)bk + λbk + kbk + bk−2 − λ2bk

)xk

=xλ∞∑k=0

(2λkbk + k2bk + bk−2

)xk

Nach dem Identitatssatz fur Potenzreihen mussen nun alle Koeffizienten = 0 sein:

k(k + 2λ)bk + bk−2 = 0.

Aus b−1 = 0 folgt, wenn λ keine negative ganze Zahl ist,

b1 = − b−1

1(1 + 2λ)= 0, b3 = − b1

3(3 + 2λ)= 0, . . .

Fur die geraden Indizes von b sieht die Sache anders aus, weil

0(0 + 2λ)b0 + b−2 = 0

keine Bedingung an b0 stellt. Also konnen wir b0 beliebig wahlen und die b2m rekursivberechnen:

b2m = − b2m−2

4m(λ+m).

Wieder wollen wir dabei voraussetzen, dass λ keine negative ganze Zahl ist, so dass derNenner niemals 0 wird. Wir finden

b2m = − b2m−2

4m(λ+m)=

14m(λ+m)

b2m−4

4(m− 1)(λ+m− 1)= . . .

= (−1)mb0

4mm!(λ+m)(λ+m− 1) . . . (λ+ 1)

Damit erhalten wir

y(x) = b0xλ∞∑m=0

(−1)m

m!(λ+ 1) . . . (λ+m)

(x2

)2m

Es folgt leicht mit dem Quotientenkriterium, dass die Potenzreihe fur alle x ∈ R konvergiert.Deshalb hat unser Ansatz tatsachlich zum Ziel gefuhrt: Wir haben eine Losung unsererDifferentialgleichung gefunden.

64

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Es ist ublich, fur b0 einen ganz bestimmten, dem λ angepaßten Wert zu wahlen: Wennλ = k ∈ N ist, bietet sich

b0 =1

2λλ!an. Dann wird

y(x) =(x

2

)λ ∞∑m=0

(−1)m

m!(λ+m)!

(x2

)2m

,

und diese Losung nennt man die Besselfunktion 1. Art Jλ zum Index λ. Ihre Reihe ist nichtviel komplizierter als zum Beispiel die Cosinusreihe.

Im Anhang 11.6 finden Sie die Gestalt der Besselfunktionen diskutiert.

5 10 15 20

-0.4

-0.2

0.2

0.4

0.6

0.8

1

J02J

2 π x√________√

__

Bei den Zylinderkoordinaten war λ mit der Variablen φ gekoppelt und ganzzahlig. Bei den

Kugelkoordinaten kommen aber auch nicht ganzzahlige Werte λ =√ν2 + 1

4 vor. Dann istλ! nicht mehr definiert. Wie soll man b0 in diesem Fall wahlen?

Man benutzt dann eine Extrapolationder Fakultatsfunktion auf die ganze re-elle Achse ausgenommen die negativenganzen Zahlen, die sogenannte Gamma-funktion Γ fur die gilt:

Γ(n+ 1) = n! fur n ∈ N,Γ(x+ 1) = xΓ(x) fur − x /∈ N.

-3 -2 -1 1 2 3 4

-4

-2

2

4

Vergleiche auch Anhang 11.10.

Wie im ganzzahligen Fall setzt man damit nun

b0 :=1

2λΓ(λ+ 1).

Wegen

Γ(λ+m+ 1) = (λ+m)Γ(λ+m) = . . . = (λ+m) . . . (λ+ 1)Γ(λ+ 1)

erhalt man Besselfunktionen:

Jλ(x) =(x

2

)λ ∞∑m=0

(−1)m

Γ(m+ 1)Γ(λ+m+ 1)

(x2

)2m

. (91)

Dabei ist λ ∈ R, aber zunachst keine negative ganze Zahl.

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Fur ganzzahliges negatives λ kann man die Terme, bei denen Γ(λ+m+ 1) im Nenner einenPol hat, einfach als Null interpretieren. Dann liefert die vorstehende Formel auch eine LosungJλ von (90), wie eine sorgfaltige Analyse unseres Rekursionsansatzes zeigt. Dabei ergibt sich

J−k(x) = (−1)kJk(x) fur k ∈ Z. (92)

Als lineare homogene Differentialgleichung hat die Besselgleichung fur festes λ zwei linearunabhangige Losungen. Fur λ /∈ Z sind diese z.B. durch Jλ und J−λ gegeben. Die Un-abhangigkeit folgt aus dem verschiedenen Verhalten fur x ↘ 0. Fur ganzzahliges λ ∈ N istes schwieriger, eine von Jλ unabhangige Losung anzugeben, vgl. den Anhang 11.7.

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10 Gewohnliche Rand- und Eigenwertprobleme

Sie haben im Abschnitt 8 gesehen, dass die Rand-Anfangswertprobleme wichtiger parti-eller Differentialgleichungen auf spezielle gewohnliche Differentialgleichungen wie die Bes-

selgleichung fuhren, dass von den gefundenen Losungen aber nur spezielle gebraucht werden,die mit den Randbedingungen kompatibel sind. Weiter ist noch die Frage nach der Koeffi-zientenbestimmung fur die Anfangsbedingungen offen. Sehen Sie insbesondere noch einmaldas Beispiel 70 an.

Diesen Problemen wenden wir uns jetzt in einem allgemeineren Rahmen zu.

10.1 Zur Vorbereitung

10.1.1 Anfangswertprobleme gegen Randwertprobleme

• Anfangswertprobleme von halbwegs “anstandigen” Differentialgleichungen sind ein-deutig losbar. Ganz anders sieht das aus mit den in vielen Anwendungen auftretendenRandwertproblemen, die wir zunachst untersuchen.

• Oft sind sie nur fur spezielle Werte der mit dem Problem verbundenen Parameterlosbar, was auf sogenannte Rand-Eigenwert-Probleme und sogenannte Eigenlosungenfuhrt.

Wir betrachten eine lineare Differentialgleichung 2. Ordnung

L(y) = y′′ + a1(x)y′ + a2(x)y = h(x) (93)

mit stetigen Koeffizientenfunktionen auf einem Intervall I ⊂ R. Fur a ∈ I konnen wir dann

y(a) = ηa und y′(a) = η′a

beliebig vorgeben und erhalten eine eindeutig bestimmte Losung y(x). Es kommt aber haufigvor, dass man nicht den Funktionswert und die Ableitung an der Stelle a vorgeben mochte,sondern z.B. nur y(a), dafur aber auch den Funktionswert an einer anderen Stelle b. Dannspricht man von einem Randwertproblem im Gegensatz zu dem Anfangswertproblem, weil aund b haufig der Anfangs- und Endpunkt des Intervalls J sind.

Frage: Gibt es auch fur beliebig vorgeschriebene Randwerte genau eine Losung?

Bezeichnen wir mit L−1({h}) den Losungsraum von (93), so haben wir eine Abbildung

Ya : R2 → L−1({h})(ηa, η′a) 7→ y(x),

die jedem Paar von Anfangswerten in a die entsprechende Losung zuordnet. Diese Abbil-dung ”geschieht“ durch Losen der Differentialgleichung. Sie ist offenbar bijektiv, und dieUmkehrabbildung ist

Y −1a : y(x) 7→ (y(a), y′(a)).

Sind y(x) und y(x) zwei Losungen mit Anfangswerten (ηa, η′a) bzw. (ηa, η′a), so ist fur jedesreelle λ auch

(1− λ)y(x) + λy(x)

eine Losung (Nachrechnen!) mit den Anfangsbedingungen

(1− λ)(ηa, η′a) + λ(ηa, η′a).

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Diese Anfangsbedingungen bilden eine mit λ parametrisierte Gerade im R2 und die zu-gehorigen Losungen in L−1(h) bilden ebenfalls eine Gerade.

Eine entsprechende Abbildung Yb haben wir im Punkt b.

Im nebenstehendem Diagramm ist die-se Situation veranschaulicht. Links sindalle Anfangsbedingungen mit demsel-ben ηa an der Stelle a eingezeichnet,oben die zugehorigen Losungen der Dif-ferentialgleichung und rechts die ent-sprechenden ”Endwerte“ an der Stelleb. In dieser Situation ist es klar, dassman ηb beliebig vorschreiben kann; esgibt dann genau eine Losung mit denRandwerten ηa, ηb.

Y Ya b

-1

η

η' η'

η

a b

ba

L ({b(x)})-1

Sieht das Diagramm hingegen folgendermaßen aus, so ist das offensichtlich nicht mehr derFall.

Der Anfangswert ηa legt ηb fest. Dafurkann man jetzt zu gegebenem ηa ein η′bbeliebig wahlen. Auch dieser Fall, dieFixierung von ηa und η′b, kommt in An-wendungen vor, vgl. das nachstehendeBeispiel.

Y Ya b

-1

η

η' η'

η

a b

ba

L ({b(x)})-1

Welches Bild ”das richtige“ ist, hangt von der konkreten Differentialgleichung ab.

Beispiel 71 (Balkenbiegung). Ein belasteter horizontaler Balken wird beschrieben alsGraph der Funktion y(x), die einer Differentialgleichung

y′′ = b(x)

genugt. Dabei ist b(x) gegeben durch die Biegesteifigkeit des Materials und das belastendeMoment. Wir illustrieren verschiedene mogliche Anfangs- bzw. Randbedingungen:

Anfangswertproblem:y(0) = 0, y′(0) = 0.

��������

1. Randwertproblem:Feste Auflage an beiden Endeny(0) = 0, y(L) = 0.

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2. Randwertproblem:Feste Auflage links, fester Winkel rechtsy(0) = 0, y′(L) = 0.

3. Randwertproblem:Feste Winkel links und rechtsy′(0) = φ0, y′(L) = 0.

ϕ0

Wir wissen, dass die allgemeine Losung der ”Balkengleichung“ so aussieht:

y(x) = c1x+ c2 + yP (x)

mit einer partikularen Losung yP . Die findet man durch zweimalige Integration von b(x),aber wir mussen das hier nicht machen. Zur Vereinfachung wahlen wir yP mit Anfangsbe-dingungen yP (0) = y′P (0) = 0. (Warum durfen wir das?). Dann finden wir

η0 =c2, ηL=c1L+ c2 + yP (L),η′0 =c1, η′L=c1 + y′P (L).

Also ergeben sich die Endwerte aus den Anfangswerten wie so:

ηL = η′0L+ η0 + yP (L),η′L = η′0 + y′P (L).

Die obigen Randbedingungen fixieren jeweils zwei der vier η-Großen, und es verbleiben zweilineare Gleichungen fur die restlichen zwei. Das Gleichungssystem kann

• eindeutig losbar sein (Anfangswertproblem, 1. und 2. Randwertproblem),

• unlosbar sein (3. Randwertproblem mit η′L − η′0 6= y′P (L)) oder

• mehrere Losungen haben (3. Randwertproblem mit η′L − η′0 = y′P (L))

Das Beispiel des Balkens ist typisch fur die Situation bei Randwertproblemen. Ublicherweisehat man nach Fixierung der Randbedingungen in a und b zwei lineare Gleichungen fur diezwei willkurlichen Koeffizienten c1, c2 in der allgemeinen Losung. Aber anders als beimAnfangswertproblem treten hier eben alle drei Moglichkeiten fur deren Losungsmenge auf:Genau eine Losung, keine Losung, unendlich viele Losungen. Welcher Fall vorliegt, kannman in der Regel erst entscheiden, wenn man die Differentialgleichung (oder wenigstens diezugehorige homogene) wirklich gelost hat und sieht, wie sich die Anfangsbedingungen aufdie Endbedingungen ubertragen, vgl. die obigen Diagramme und zum Kontrast das folgendealtbekannte Beispiel.

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Beispiel 72 (Schwingende Saite). Die Differentialgleichung

y′′ + λy = 0, λ > 0,

mit den Anfangsbedingungy(0) = η0, y′(0) = η′0

hat die Losung

y(x) = η0 cos(√λx) +

η′0√λ

sin(√λx).

Die Werte an der Stelle x = π sind

ηπ = η0 cos(√λπ) +

η′0√λ

sin(√λπ)

η′π = −√λ η0 sin(

√λπ) + η′0 cos(

√λπ)

Das Randwertproblem (an den Endpunkten eingespannte Saite)

y(0) = 0 = y(π)

hat im allgemeinen nur die triviale Losung y = 0. Eine nicht-triviale Losung existiert nurfur spezielle Werte, namlich

λ = k2 mit ganzzahligem k.

Diese Situation von Randwertproblemen mit einem Parameter nennt man Rand-Eigenwert-probleme.

Beispiel 73 (Eulersche Knicklast). Die Auslenkung X eines in Langsrichtung belastetenStabes der Lange L wird gegeben durch die Gleichung

X ′′ + cPX = 0, X(0) = X(L) = 0,

wobei P die Last und c eine Materialkonstante ist.Das ist dieselbe Gleichung wie fur die schwingendeSaite!Fur kleine Lasten gibt es nur die triviale Losung:Der Stab knickt nicht ein. Erst bei der sogenanntenEulerschen Knicklast

P = c−1(πL

)2

gibt es eine nichttriviale Losung und damit eine (si-nusformige) Deformation.

� �X

x

Vergleichen Sie dazu auch das nicht-lineare Problem im Anhang 11.5.

70

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10.1.2 Der Nutzen von Orthonormalsystemen

• Durch Superposition von Eigenlosungen findet man Losungen, die vorgegebene An-fangsbedingungen erfullen. Die Bestimmung der richtigen Koeffizienten wird wie inder Fouriertheorie durch die Orthogonalitat von Eigenlosungen zu verschiedenen Ei-genwerten erheblich vereinfacht.

• Warum das so ist, sehen wir an der analogen Situtation von Orthonormalbasen inEuklidischen Vektorraumen.

Wir wiederholen, dem Anschein nach etwas unmotiviert, ein wenig lineare Algebra. AmEnde dieses Abschnitts werden Sie ahnen, welchen Zusammenhang es mit der Theorie derDifferentialgleichungen gibt:

In der linearen Algebra sind Orthonormalbasen ein außerordentlich bequemes Hilfsmittel.Will man einen Vektor ~v nach einer Orthonormalbasis ~v1, . . . , ~vn entwickeln

~v =n∑k=1

λk~vk,

so sind die Entwicklungskoeffizienten einfach gegeben durch

λk = 〈~v,~vk〉,

wobei wir mit 〈x, y〉 =∑xiyi das ubliche Skalarprodukt bezeichnet haben.

Ebenfalls aus der linearen Algebra ist bekannt, dass die Eigenvektoren einer selbstadjun-gierten Matrix (d.h. A = AT ) zu verschiedenen Eigenwerten immer orthogonal sind. Das istsehr leicht einzusehen: Ist A~x = λ~x und A~y = µ~y mit λ 6= µ, so folgt

λ〈~x, ~y〉 = 〈λ~x, ~y〉 = 〈A~x, ~y〉 = 〈~x,AT~y〉 = 〈~x,A~y〉 = 〈~x, µ~y〉 = µ〈~x, ~y〉.

Wir haben dabei benutzt, dass

〈A~x, ~y〉 =n∑j=1

(n∑k=1

ajkxk)yj =n∑k=1

xk(n∑j=1

ajkyj) = 〈~x,AT~y〉

ist. Die adjungierte(=transponierte) Matrix ist durch diese Gleichung charakterisiert.

Wir fassen zusammen: Entwicklung nach Orthonormalbasen ist bequem, und man bekommtOrthonormalbasen zum Beispiel als Eigenvektoren einer selbstadjungierten Matrix. (DieProbleme mit mehrfachen Eigenwerten ignorieren wir hier.)

Diese angenehme Situation wiederholt sich bei den Fourierreihen. Wir betrachten den vonder Notation her einfacheren komplexen Fall. Die Entwicklung einer T -periodischen Funktionnach harmonischen Schwingungen

f(t) ∼∑

ckeikωt, ω = 2π/T

ist leicht: Man muß nur die Fourierkoeffizienten bestimmen, und die sind wieder Skalar-produkte, nun aber nicht mehr durch Summation uber die Komponenten, sondern durchIntegration definiert: 7

ck = 〈f, eikωt〉 =1T

∫ T

0

f(t)e−ikωtdt.

7Das komplexe Skalarprodukt

〈f, g〉 =1

T

Z T

0f(t)g(t)dt

hat einen Querstrich (=Konjugation) auf dem zweiten Faktor, damit 〈f, f〉 ≥ 0. Im Reellen”sieht man davon

nichts“.

71

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Wesentlich ist dabei die Orthogonalitat der harmonischen Schwingungen, also die Gleichung

〈eikωt, eilωt〉 =1T

∫ T

0

eikωte−ilωtdt = 0 fur k 6= l.

Diese Orthogonalitat kann man durch direkte Integration leicht nachweisen, und so wird esoft auch gemacht.

Man kann aber auch benutzen, dass eikωt eine Eigenfunktion zum Eigenwert −(kω)2 fur dielineare Abbildung

L(y) := y′′

ist (Nachrechnen!) und dass diese lineare Abbildung selbstadjungiert ist, d.h. dass

〈L(f), g〉 = 〈f, L(g)〉

gilt.

Beweis. Es gilt

L(f)g − f L(g) = f ′′g − fg′′ = (f ′g − fg′)′

und daher fur T -periodische Funktionen

〈L(f), g〉 − 〈f, L(g)〉 =1T

∫ T

0

(f ′g − fg′)′dt =1T

(f ′g − fg′)|T0 .

Wegen der Periodizitat hat die rechts stehende Wronskideterminate in 0 und T denselbenWert, also ist der Ausdruck = 0 und 〈L(f), g〉 = 〈f, L(g)〉.

Den Beweis, dass Eigenfunktionen zu verschiedenen Eigenwerten von L bezuglich des Integral-Skalarproduktes senkrecht stehen, kann man dann von der obigen Matrixversion wortlichubernehmen.

Das vorstehende Beispiel ist typisch fur eine ganze Klasse von Rand-Eigenwertproblemen,wie wir im folgenden zeigen werden.

Zuvor erinnern wir aber noch einmal daran, dass die Entwicklung nach Eigenfunktionenein wichtiges Mittel zur Losung von Anfangswertaufgaben bei Randwertproblemen ist, vgl.Beispiel 70.

72

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10.2 Selbstadjungiertheit und Orthogonalitatsrelationen

10.2.1 Das Sturmsche Randwertproblem

• Die Losungen von selbstadjungierte Differentialgleichungen mit geeigneten Randbe-dingungen erfullen typischerweise Orthogonalitatsbedingungen.

Wir wollen die vorstehenden Uberlegungen auf Verallgemeinerungen des Differentialopera-tors L(y) = y′′ ubertragen. Wir betrachten homogene lineare Differentialgleichungen derForm

L(y) := (p(x)y′)′ + q(x)y = 0 (94)

mit stetig differenzierbaren Funktionen p, q auf einem Intervall [a, b]. Man nennt dies eineselbstadjungierte Form der Differentialgleichung. Der Name erklart sich aus folgendem

Satz 74 (Selbstadjungiertheit im Sturmschen Randwertproblem). Der Differential-operator L ist selbstadjungiert, d.h. es gilt (fur reellwertige Funktionen)∫ b

a

L(y1)(x)y2(x)dx =∫ b

a

y1(x)L(y2)(x)dx,

wenn eine der folgenden drei homogenen Randbedingungen erfullt ist:

(i) Es giltp(a) = p(b) = 0. (95)

(ii) y1 und y2 erfullen dieselben Randbedingungen

y(a) = y(b) = 0. (96)

(iii) y1 und y2 erfullen dieselben allgemeineren Randbedingungen

αy(a) + βy′(a) = γy(b) + δy′(b) = 0 (97)

mit α2 + β2 > 0, γ2 + δ2 > 0.

Die Differentialgleichung (94) zusammen mit der homogenen Randbedingung (97) nenntman auch eine Sturmsche Randwertaufgabe.

Beweis. Es gilt wieder

L(y1)y2 − y1L(y2) = (py′1)′y2 + qy1y2 − y1(py′2)′ − qy1y2 = (p (y′1y2 − y′2y1))′

und daher ∫ b

a

(L(y1)y2 − y1L(y2))dx = pdetW (y1, y2)|ba .

Sind p(x) oder y1(x) und y2(x) an beiden Endpunkten = 0 so folgt die Behauptung. Ausder Bedingung (iii) folgt mit der transponierten Wronskimatrix(

y1(a) y′1(a)y2(a) y′2(a)

)(αβ

)=(

00

).

Also ist detW (y1, y2)x=a = 0 und ebenso detW (y1, y2)x=b = 0.

73

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Beispiel 75 (Besselgleichung). Die Besselgleichung

x2y′′ + xy′ + (x2 − λ2)y = 0

liefert fur jedes µ ∈ R die folgende Differentialgleichung fur v(x) = y(µx):

x2v′′ + xv′ + (µ2x2 − λ2)v = 0.

oder, nach Division durch x

(xv′)′ + (µ2x− λ

x)v = 0.

Das ist in selbstadjungierter Form. Wahlt man λ = 0 oder λ ≥ 2, so ist J ′λ(0) = 0. Ist weiterµ > 0 eine Nullstelle von Jλ, so erfullt die zugehorige Losungsfunktion v(x) = Jλ(µx) diehomogenen Randbedingungen

v′(0) = 0, v(1) = 0.

Selbstadjungierte Schreibweise. Nicht nur die Besselgleichung laßt sich in selbtadjun-gierter Form schreiben. Das gilt tatsachlich sehr viel allgemeiner: Die homogene lineareDifferentialgleichung 2. Ordnung

a0y′′ + a1y

′ + a2y = 0. (98)

hat dieselbe Losungsmenge, wie

es(x)(a0y′′ + a1y

′ + a2y) = 0,

mit einer beliebigen Funktion s(x). Man kann sie also ”umnormieren“. Setzt man nun voraus,dass

a0 > 0

und wahlt man s(x) =∫ a1(ξ)−a′0(ξ)

a0(ξ)dξ, so ergibt sich a1(x) − a′0(x) − s′(x)a0(x) = 0 und

damit

es(x)(a0y′′ + a1y

′ + a2y)

= (es(x)a0y′)′ + es(x)(a1 − a′0(x)− s′(x)a0(x))y′ + es(x)a2y

= (es(x)a0y′)′ + es(x)a2y.

Jede Differentialgleichungsfamilie der Form (98) laßt sich also in selbstadjungierter Formschreiben, man muß nur den Faktor es(x) bestimmen.

74

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10.2.2 Orthogonalitat der Eigenfunktionen (Sturm-Liouville)

Wir kommen nun zur Orthogonalitat der Eigenfunktionen selbstadjungierter Differential-operatoren in einer etwas verallgemeinerten Formulierung. Wir betrachten das sogenannteSturm-Liouvillesche Eigenwertproblem:

Sei Q : [a, b] → R eine positive Funktion. Wir betrachten zwei Losungen y1, y2 von

(py′)′ + (q + λQ)y = 0 (99)

zu verschiedenen λ-Werten λ1 bzw. λ2.

Mit den obigen Bezeichnungen haben wir also

L(y1) = −λ1Qy1, L(y2) = −λ2Qy2,

d.h. die yk sind bis auf den Faktor Q Eigenfunktionen von L zu den Eigenwerten −λk. Mit〈f, g〉 :=

∫ baf(x)g(x)dx ergibt sich dann unter jeder der Randbedingungen aus Satz 74, dass

(λ1 − λ2)〈y1, Qy2〉 = λ1〈y1, Qy2〉 − λ2〈Qy1, y2〉= 〈y1, λ1Qy2〉 − 〈λ2Qy1, y2〉= −〈y1, L(y2)〉+ 〈L(y1), y2〉= 0.

Daraus folgt der

Satz 76 (Orthogonalitatssatz zum Sturm-Liouville-Problem). Fur zwei Losungeny1, y2 von

(p(x)y′)′ + (q(x) + λQ(x))y = 0

zu verschiedenen λ-Werten λ1 bzw. λ2 gilt∫ b

a

y1(x)y2(x)Q(x)dx = 0,

falls eine der drei Randbedingungen (95), (96), (97) aus Satz 74 erfullt ist.

Beispiel 77. Bedingung (96) ist erfullt fur die schwingende Saite

y′′ + k2y = 0, k ∈ Zy(0) = y(π) = 0

und liefert ∫ π

0

sin kx sin lxdx = 0, k, l ∈ Z, k 6= l.

Beispiel 78. Die selbstadjungierte Besselgleichung aus dem Beispiel 75 mit λ ∈ N \ {1}kann man auch als Eigenwertproblem schreiben:

(xv′)′ +(−λx

)v + µ2x v = 0

mit der Randbedingung vom Typ (97)

y′(0) = 0, y(1) = 0.

75

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Die Eigenwerte µ sind gerade die positiven Nullstellen jλ;k von Jλ. Man erhalt die sogenann-ten Orthogonalitatsrelationen fur die Besselfunktionen:∫ 1

0

Jλ(jλ;kx)Jλ(jλ;lx)xdx = 0 fur k 6= l.

76

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10.3 Eigenwerte und die Entwicklung nach Eigenfunktionen

10.3.1 Die Folge der Eigenwerte

• Bisher haben wir uns mit der Orthogonalitat der Eigenlosungen von selbstadjungiertenDifferentialgleichungen beschaftigt.

• Wenn man diese Eigenschaft benutzen will, um ”beliebige Funktionen“ durch Ei-genlosungen darzustellen, also eine verallgemeinerte Fourierentwicklung vornehmenwill, braucht man naturlich auch, dass es genug Eigenlosungen gibt. Wir lernen, unterwelchen Bedingungen das der Fall ist.

Vergleichen Sie auch Energie-, Impuls- und Stofftransport, Abschnitt 2.3.4.

Definition 79 (Eigenwerte und -funktionen). Wir betrachten eine selbstadjungierteDifferentialgleichung (99) mit der Randbedingung (97). Gibt es zu einem Parameterwert λeine nichttriviale Losung y(x) des Randwertproblems, so nennt man λ einen Eigenwert undy(x) eine zugehorige Eigenfunktion des Randwertproblems

(py′)′ + (q + λQ)y = 0(100)

αy(a) + βy′(a) = γy(b) + δy′(b) = 0

mit α2 + β2 > 0, γ2 + δ2 > 0. Wir erinnern noch einmal daran, dass die Randbedingungenkonkret z.B. so aussehen konnen:

y(a) = y(b) = 0 (Dirichletsche Randbedingung),

odery′(a) = y′(b) = 0 (Neumannsche Randbedingung).

Satz 80 (Folge der Eigenwerte und Oszillation). Sind

p(x) > 0, Q(x) > 0 fur alle x ∈ [a, b],

so gilt: Die Eigenwerte des Rand-Eigenwertproblems (100) bilden eine unendliche Folge

λ0 < λ1 < . . .

reeller Zahlen, die gegen +∞ konvergiert. Jede Eigenfunktion zu λn hat in ]a, b[ genau nNullstellen.

Beweisidee. Wir geben die Beweisidee fur die Randwerte y(a) = 0 = y(b) mit a = 0. Wirverwenden einen Trick, der fruher auch das Nullstellenverhalten der Besselfunktionen lieferte:Wir machen aus der Differentialgleichung fur y(x) eine fur v(x) := y(x)

m(x) und bestimmen m

so, dass die neue Gleichung keinen v′-Term enthalt. Wir finden m = p−1/2 und dann dieaquivalente Differentialgleichung

v′′ +(q

p+

p′

4p2+ λ

Q

p

)v = 0. (101)

Die Nullstellen von v sind gleichzeitig die von y. Fur sehr großes |λ| sieht das aus wie dieDifferentialgleichung

v′′ + λQ

pv = 0. (102)

77

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Ist Q/p = C konstant (und naturlich > 0), so sehen die Losungen von (102) mit y(0) = 0folgendermaßen aus:

v(x) =

A sinh(

√−Cλx) fur λ < 0,

Ax fur λ = 0,A sin(

√Cλx) fur λ > 0.

Laßt man λ aus dem Negativen langsam wachsen, so geschieht folgendes:

• Zunachst gibt es keine positiven Nullstellen, weil sinhx > 0 fur x > 0.

• Wird λ positiv, so ist die erste positive Nullstelle bei x = π/√Cλ, also zunachst viel

großer als b.

• Wachst λ weiter, so wird dieser Wert kleiner, bis schließlich π/√Cλ = b. Dieses λ ist

der erste Eigenwert λ0 von (102).

• Wachst λ weiter, so ”rutschen“ immer mehr Nullstellen in das Intervall [0, b], und furjeden ”Durchgang“ einer Nullstelle durch b erhalt man einen Eigenwert von (102).

Mit einigem Aufwand an Mathematik laßt sich dieses Argument auf den Fall von variablemQ/p ausdehnen und schließlich auf (101) ubertragen.

Beispiel 81 (Schwingende Saite). Das Rand-Eigenwertproblem

y′′ + λy = 0y(0) = 0 = y(π)

hat die Eigenwerte λk = k2, k ∈ N mit zugehorigen Eigenfunktionen

yk(x) = sin kx.

Beispiel 82 (Ringmembran). Wir betrachten Wellen in einem ebenen Ringbereich

a2 ≤ x2 + y2 ≤ b2

mit 0 < a < b, d.h wir suchen Losungen des Randwertproblems

∆u = uxx + uyy = c−2utt,

u(x, y, t) = 0 fur x2 + y2 = a2 und x2 + y2 = b2.

Das kann man interpretieren als eine am Rand eingespannte Ringmembran oder als eineelektromagnetische Schwingung in einem langen Doppelzylinder.Separation dieser partiellen Differentialgleichung in Polarkoordinaten fuhrt auf folgendesSystem entkoppelter gewohnlicher Differentialgleichungen:

T + c2ω2T = 0,

Φ′′ + n2Φ = 0,

ρ2R′′ + ρR′ + (ρ2ω2 − n2)R = 0.

78

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Da die Winkelfunktion Φ naturlich 2π-periodisch sein soll, folgt n ∈ N. Diese Zahl kontrolliertalso die Zahl der Wellenmaxima beim Umlauf um die Achse.Nach Division durch das in unserem Fall positive ρ konnen wir die letzte Gleichung (dieBesselgleichung) schreiben als

(ρR′)′ − n2

ρR+ ω2ρR = 0, (103)

mit der RandbedingungR(a) = 0 = R(b).

Nach dem obigen Satz gibt es (fur jedes feste n ∈ N) eine gegen Unendlich konvergierendeFolge

ω20 < ω2

1 < . . .

von Eigenwerten. Die ωk sind die Eigenfrequenzen der Membran und k zahlt die Wellenma-xima in radialer Richtung.Wir wollen noch den Zusammenhang mit den Standard-Besselfunktionen klaren. Die Bes-

selgleichung in der ublichen Form

x2y′′ + xy′ + (x2 − n2)y = 0

hat als Losungsbasis die Besselfunktionen erster und zweiter Art Jn und Yn. EineLosungsbasis von (103) sind dann die Funktionen Jn(ωx) und Yn(ωx). Also lassen sichfur gewisse Frequenzen ω diese beiden Funktionen so nicht-trivial linear kombinieren, dasssie in a und b verschwinden:

αJn(aω) + βYn(aω) = 0,αJn(bω) + βYn(bω) = 0.

Aber das hat genau dann eine nicht-triviale Losung, wenn die Systemmatrix die Determi-nante null hat:

d(ω) = Jn(aω)Yn(bω)− Jn(bω)Yn(aω) = 0.

Die Nullstellen dieser Funktion sind also die Eigenfrequenzen unseres Randwertproblems.Wir geben einen Mathematica-Plot dieser Funktion

a = 1; b = 3; n = 3;Plot[BesselJ[n, a ω]]BesselY[n, b ω] -BesselJ[n, b ω]BesselY[n, a ω],{ω, 0, 20},AxesLabel− > {ω, None}];

5 10 15 20w

-0.2

-0.15

-0.1

-0.05

0.05

0.1

0.15

10.3.2 Entwicklung nach Eigenfunktionen

In der Linearen Algebra lernt man: Ist ~v1, . . . , ~vn ein System orthonormaler Vektoren im Rn,so laßt sich jeder Vektor ~x darstellen als

~x =∑

(~x · ~vk)~vk. (104)

Man kann aber

< y1, y2 >Q:=∫ b

a

y1(x)y2(x)Q(x)dx

79

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als ein Skalarprodukt im Vektorraum der Funktionen8 betrachten. Wir haben schon gesehen,dass die Eigenfunktionen von (100) orthogonal bezuglich dieses Skalarproduktes sind, vgl.Satz 76.

Satz 83 (Entwicklungssatz). Wir betrachten wieder das Rand-Eigenwertproblem (100)mit p,Q > 0. Ist yn(x) eine Folge von normierten Eigenfunktionen zu den λn, d.h. gilt

< ym, yn >Q=

{1 fur m = n,

0 sonst,

so laßt sich jede stetig differenzierbare Funktion f , die die Randbedingungen erfullt, schreibenals

f(x) =∞∑n=0

< f, yn >Q yn. (105)

Der Beweis ist viel schwerer als im Fall des Rn. Er ubersteigt die Moglichkeiten dieserVorlesung.

Beispiel 84 (Fourierreihen). Die ungeraden Funktionen der Periode π erfullen auf [0, π]die Randbedingungen

y(0) = y(π) = 0.

Die Eigenwerte der Schwingungsgleichung y′′ + λy = 0 mit diesen Randbedingungen sindλ = k2, k ∈ N, und die Funktionen sin kx sind zugehorige Eigenfunktionen. Wegen∫ π

0

sin2 kxdx =π

2

sind die Funktionen yk(x) =√

2π sin kx ein normiertes System von Eigenfunktionen. Stetig

differenzierbare Funktionen f auf [0, π] mit f(0) = f(π) = 0 lassen sich entwickeln in derForm

f(x) =∞∑n=0

bk sin kx, bk =2π

∫ π

0

f(x) sin kxdx.

Das wußten wir schon.

Beispiel 85 (Fourier-Bessel-Reihen). Wir kommen zuruck zum Beispiel 82 und betrachtenradialsymmetrische Wellen, d.h. den Fall n = 0. Sei Rk(ρ) eine normierte Losung zumEigenwert ω2

k. Die GleichungT + c2ω2

kT = 0

hat die LosungenT (t) = ak cos(cωkt) + bk sin(cωkt).

Damit findet man fur das Ringmembranproblem folgende Losungen

u(ρ, t) =∞∑k=0

Rk(ρ)(ak cos(cωkt) + bk sin(cωkt))

8 Genauer: Im Vektorraum der stuckweise stetig differenzierbaren Funktionen auf [a, b], welche die Rand-bedingungen erfullen.

80

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Die Anfangsbedingungen zur Zeit t = 0 ergeben sich als

u(ρ, 0) =∞∑k=0

akRk(ρ)

∂u

∂ρ(ρ, 0) =

∞∑k=0

bkcωk Rk(ρ)

Stetig differenzierbare Anfangsbedingungen lassen sich nach dem Entwicklungssatz realisie-ren. Dabei ist

ak :=∫ b

a

u(ρ, 0)Rk(ρ)ρdρ, bk :=∫ b

a

uρ(ρ, 0)Rk(ρ)ρdρ.

81

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11 Anhang

Das Material in diesem Anhang kann, muß aber nicht Gegenstand der Vorlesungen zu diesemModul sein. Insbesondere im kurzeren Sommersemester wird es oft nicht unterzubringen sein.

Dennoch erschien es wunschenswert, die hier angesprochenen Themen in der Ihnen vertrau-ten Sprache dieses Skriptes bereitzustellen.

11.1 Wiederholung: Eigenwerte und Eigenvektoren

Die Eigenwerte λ findet man als Nullstellen des charakteristischen Polynoms

det(A− λE) = 0. (106)

Zu jedem Eigenwert λ findet man die Eigenvektoren ~v durch Losen der Eigenvektorgleichung

(A− λE)~v = ~0. (107)

Die Bestimmung der Nullstellen eines Polynoms von hoherem Grad bleibt naturlich eineschwierige Aufgabe.

Gleichung (107) ist ein homogenes lineares Gleichungssystem, das nicht-triviale Losungenhat und deshalb nicht eindeutig losbar ist. Die Eigenvektoren zu λ bilden einen Vektorraum,den Eigenraum zum Eigenwert λ.

Wieviele EigenWERTE gibt es? Sei A eine (n, n)-Matrix. Dann ist das charakteristischePolynom vom Grad n und hat daher n Nullstellen.

Naturlich konnen Nullstellen zusammenfallen. Ist λ eine k-fache Nullstelle, so nennt man λeinen Eigenwert der algebraischen Vielfachheit k.

Es kann auch vorkommen, dass das charakteristische Polynom komplexe Nullstellen hat.Dann ist A−λE eine komplexe Matrix und die Eigenvektorgleichung ein komplexes linearesGleichungssystem. Die Losungsmethoden dafur sind dieselben wie im Reellen (Gaußalgorith-mus). Die zugehorigen Eigenvektoren liegen dann im Cn, d.h es sind Vektoren mit komplexenKomponenten.

Beispiel 86. Die Matrix

A =(

1 −11 1

).

hat die charakteristische Gleichung (1− λ)2 + 1 = 0. Sie hat die Losungen

λ1,2 = 1± i.

Die Eigenvektorgleichung fur λ1 = 1 + i ist(−i −11 −i

)(xy

)=(

00

).

Offensichtlich ist die zweite Gleichung das i-fache der ersten und

~v1 =(

i1

).

ein Eigenvektor zum Eigenwert λ1 = 1 + i. Fur den Eigenwert λ2 = 1− i findet man einenEigenvektor ~v2 =

(−i1

)82

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Konjugierte Eigenwerte und -vektoren. Im vorstehenden Beispiel unterscheiden sichdie beiden Eigenwerte nur durch das Vorzeichen des Imaginarteils, sie sind konjugiert zueinander. Das ist bei reellen Matrizen immer so: Ist λ = α + iω ein Eigenwert, so auchdie dazu konjugiert-komplexe Zahl λ = α − iω. Das liegt daran, dass das charakteristischePolynom a0 + a1λ+ . . .+ anλ

n reele Koeffizienten ai hat. Daher ist

a0 + a1λ+ . . .+ anλn = a0 + a1λ+ . . .+ anλn = 0.

Zum konjugierten Eigenwert gehoren die (komponentenweise) konjugierten Eigenvektoren.

Wieviele EigenVEKTOREN gibt es? Naturlich unendlich viele, weil Vielfache vonEigenvektoren wieder Eigenvektoren sind. Und zu jedem Eigenwert gibt es wenigstens einenEigenvektor. Wir fragen deshalb praziser:

Wieviele linear unabhangige Eigenvektoren gibt es? Zunachst gilt: Eigenvektoren zuverschiedenen Eigenwerten sind linear unabhangig.

Das charakteristische Polynom p(λ) einer n-reihigen Matrix A hat n komplexe Nullstellen,wenn man sie mit Vielfachheiten zahlt.

1. Fall Wenn alle n Eigenwerte verschieden sind, findet man dazu n (eventuell auch kom-plexe) linear unabhangige Eigenvektoren. Mehr kann man im n-dimensionalen reellen oderkomplexen Raum auch gar nicht haben. Sie bilden dann eine Basis und jeder Vektor istLinearkombination dieser Eigenvektoren.

2. Fall Wenn das charakteristische Polynom eine k-fache Nullstelle λ besitzt, k > 1, gibt eszwei Moglichkeiten:

• Die Eigenvektorgleichung hat k linear unabhangige Losungen zu λ. Dann ist dieserk-fache Eigenwert ”so gut“ wie k verschiedene Eigenwerte.

• Die Eigenvektorgleichung zu λ liefert weniger als k linear unabhangige Eigenvektoren.Man sagt, die geometrische Vielfachheit des Eigenwertes sei kleiner als seine algebrai-sche Vielfachheit.

Mehr als k linear unabhangige Eigenvektoren zu λ kann es nicht geben.

Beispiel 87. Die Matrix

A =(

2 10 2

)hat den doppelten Eigenwert 2. Aber

A− 2E =(

0 10 0

)hat den Rang 1, und deshalb gibt es nur einen linear unabhangigen Eigenvektor zu diesemEigenwert, z.B.

(10

).

Defizite bei den Eigenvektoren: Hauptvektoren. Sei λ eine k-fache Nullstelle des cha-rakteristischen Polynoms von A, aber es gebe weniger als k linear unabhangige Eigenvektorenzu λ.

Jeder λ-Eigenvektor von A erfullt

(A− λE)~v = 0 (108)

83

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und damit erst recht die Gleichung

(A− λE)k ~v = 0. (109)

A priori hat aber (109) mehr Losungen als (108). Sie heißen Hauptvektoren. Eigenvektorensind also spezielle Hauptvektoren. Zu einer k-fachen Nullstelle λ gibt es immer k linearunabhangige Hauptvektoren.

Selbstadjungierte Matrizen. Das ist ein bequemer Fall: Ist A eine symmetrische (=selbst-adjungierte) (n, n)-Matrix, also aij = aji, so gibt es im Rn immer eine Basis ~v1, . . . , ~vn ausEigenvektoren von A, die zueinander orthogonal und von der Lange 1 sind, eine sogenannteOrthonormalbasis. Insbesondere sind alle Eigenwerte reell, es gibt keine echt komplexen,und ist λ ein k-facher Eigenwert, so besitzt er k-linear unabhangige (sogar orthonormale)Eigenvektoren. Eigenvektoren zu verschiedenen Eigenwerten (einer symmetrischen Matrix)sind immer orthogonal zueinander.

84

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11.2 Die Matrix-Exponential-Losung

Vergleichen Sie hierzu Regelung in der Luft- und Raumfahrt, Abschnitt 4.1.2 oder Regelungs-technik II, Abschnitt 3.2.

Wir beschreiben eine sehr elegante Methode, um homogene lineare Differentialgleichungssy-steme mit konstanten Koeffizienten zu losen, also Systeme der Form

y′1 = a11y1 +a12y2 + . . . +a1nyny′2 = a21y1 +a22y2 + . . . +a2nyn

. . .y′n = an1y1 +am2y2 + . . . +annyn

oder kurz~y′ = A~y.

Fur n = 1 ist das einfachy′ = ay,

und das hat die Losungeny = etab,

wobei b eine beliebige Konstante, namlich y(0) ist.

Im allgemeinen Fall kann man ~y(t) = exAb versuchen, aber was soll das bedeuten? Nun,(n, n)-Matrizen kann man miteinander multiplizieren und addieren, also kann man

K∑k=0

xk

k!Ak

wenigstens fur endlichesK bilden. Man erhalt wieder eine (n, n)-Matrix mit von x abhangigenKoeffizienten. Und man kann beweisen, dass diese Koeffizienten fur K →∞ fur jedes x kon-vergieren. Den Grenzwert nennt man exA. Weiter kann man die entstehende Reihe einfachgliedweise differenzieren und erhalt – wie bei n = 1 –

d

dxexA = AexA (Produkt von zwei Matrizen).

Zuruck zu unserem Ansatz fur die Differentialgleichung. Weil ~y eine vektorwertige Funktionwerden soll, muß naturlich b ein Vektor b = ~v ∈ Rn sein. Und tatsachlich ist dann

~y(x) = exA~v

eine Losung des Differentialgleichungssystems mit der Anfangsbedingung ~y(0) = ~v.

Die kann man also einfach so hinschreiben! Nur ist sie nicht so einfach auszurechen, weil manalle die Matrixpotenzen bilden und addieren und schließlich den Grenzwert der unendlichenReihe bilden muß. Wenn allerdings A~v = λ~v ist, folgt

exA~v = eλx~v,

und man ist wieder bei der Eigenwertmethode angekommen.

Weiter erhalten wir mit

eλxE =∞∑j=0

λjxj

j!Ej = eλxE

fur beliebiges λ ∈ C

exA~v = eλxE+x(A−λE)~v = eλxEex(A−λE)~v = eλx∞∑j=0

xj

j!(A− λE)j~v.

85

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Ist nun ~v ein Hauptvektor, also etwa (A− λE)k~v = 0, so ergibt sich eine endliche Summe

exA~v = eλxk−1∑j=0

xj

j!(A− λE)j~v. (110)

Dies liefert den Zusammenhang mit dem Satz 27.

Warnung. Man konnte meinen, wenn B(x) allgemeiner eine matrixwertige Funktion und B′(x) =

A(x) ist, dann sei ~y(x) = eB(x)~v eine Losung von

~y′ = A(x)~y.

Das ist falsch, weil im allgemeinen ddx

eB(x) 6= B′(x)eB(x). Der Grund liegt in der Nicht-Kommutativitat der Matrizenmultiplikation. Es gilt

d

dxB2(x) = B′(x)B(x) + B(x)B′(x) 6= 2B′(x)B(x).

86

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11.3 Erhaltungsgroßen: Die Keplerschen Gesetze

Beispiel 88 (Keplersche Gesetze als Konsequenz der Newtonschen Bewegungs-gleichung).Die Keplerschen Gesetze fur die Bewegung der Planeten in einem Zentralfeld besagen:

1. Die Planetenbahnen sind Ellipsen mit der Sonne im Brennpunkt.

2. Der Fahrstrahl uberstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flachen.

3. Die Quadrate der Umlaufzeiten verhalten sich wie die Kuben der großen Halbachsen.

Sie sind eine Folge der Newtonschen Bewegungsgleichung

m~x = −γmM ~x

r3, r = ‖~x‖. (111)

Dies ist eine nichtlineare Differentialgleichung 2. Ordnung im 3-Dimensionalen. Es bestehtwenig Hoffnung die Losungen explizit hinschreiben und daran die Keplerschen Gesetze ab-lesen zu konnen. Auch eine numerische Behandlung kann diese Gesetz allenfalls ”unter-stutzen“, sie aber nicht beweisen. Das zugehorige dynamische System im 6-dimensionalenPhasenraum sieht so aus:

~x = m−1~p

~p = −γmM ~x

r3.

Wir definieren nun aus physikalischer Motivation den Drehimpuls

~J(~x, ~p) := ~x× ~p.

Dann ist

d

dt~J(~x, ~p) = ~x× ~p+ ~x× ~p = −m−1~p× ~p− ~x× (γmM

~x

r3) = ~0.

Also ist der Drehimpuls ~J auf jeder Phasenkurve konstant. Wegen ~J ⊥ ~x liegt die Bahn ineiner Ebene senkrecht zu ~J . Und weil

12m

‖ ~J‖ =1

2m‖~x× ~p‖ =

12‖~x× ~x‖

gerade die Flache des Dreiecks mit Seiten ~x und ~x ist, uberstreicht der Fahrstrahl in gleichenZeiten gleiche Flachen. Vgl. auch die Flachenformel

F =12

∫(x(t)y(t)− y(t)x(t))dt

aus der Analysis II.Aus einem vektoriellen Integral der Bewegung, also eigentlich aus drei reellwertigen Erhal-tungsgroßen, bekommt man bereits das 2. Keplersche Gesetz und die Tatsache, dass dieBahnen ebene Kurven sind. Aber anders als bei 2-dimensionalem Phasenraum ist damit das

”Phasenportrat“ noch keineswegs festgelegt.

87

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Zwischenrechnung. Wir berechnen

d

dt( ~J × ~p) = ~J︸︷︷︸

=0

×~p+ ~J × ~p = (~x× ~p)× ~p = (~x · ~p)~p− (~p · ~p)~x

= −γm2M

(~x

r− ~x · ~x

r3~x

).

Wenn man Erfahrung im Differenzieren von Vektorfeldern hat, kommt einem der Klammer-ausdruck bekannt vor:

d

dt

~x

r=~x

r− ~x

r2dr

dt=~x

r− ~x · ~x

r3~x.

Wir definieren deshalb

~A(~x, ~p) :=~J × ~p

γm2M+~x

r.

Dann ist auch ~A eine Erhaltungsgroße.Wir nehmen jetzt an, dass ~J in Richtung der z-Achse zeigt. Dann liegen ~J × ~p und ~x in derxy-Ebene. Also liegt auch ~A in der xy-Ebene, und wir nehmen an, dass das konstante(!) ~Ain Richtung der positiven x-Achse zeigt. Wir schreiben ~x = r(cosφ, sinφ, 0) in Zylinderko-ordinaten. Mit ‖ ~A‖ =: ε ist dann

~A · ~x = ε r cosφ.

Andrerseits ist

~A · ~x =( ~J × ~p) · ~xγm2M

+ r = −~J · (~x× ~p)γm2M

+ r = −~J · ~Jγm2M︸ ︷︷ ︸

=:η

+r

Aus den beiden Gleichungen folgt

r(1− ε cosφ) = η.

Das ist die Polarkoordinaten-Gleichung eines Kegelschnitts mit Brennpunkt im Ursprungund fur ε < 1 eine Ellipse 9. Um das zu sehen und ihre Achsen zu bestimmen, rechnen wirweiter:

r − rε cosφ = r − εx = η,

alsor = εx+ η,

und nach Quadrieren

x2 + y2 = ε2x2 + 2εηx+ η2

x2(1− ε2)− 2εηx+ y2 = η2

x2 − 2εη

1− ε2︸ ︷︷ ︸=:a

x+y2

1− ε2= η

η

1− ε2= ηa = (1− ε2)a2

(x− εa)2 +y2

1− ε2= (1− ε2)a2 + ε2a2 = a2

88

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Nach Division mit a2 folgt schließlich – falls ε < 1 – die Gleichung fur eine in Richtung derx-Achse verschobene Ellipse mit den Halbachsen a und b = a

√1− ε2:

(x− εa)2

a2+

y2

a2(1− ε2)= 1.

Damit ist das 1. Keplersche Gesetz bewiesen.Ist T die Umlaufzeit, so ist die Flache der Ellipse F = T ‖ ~J‖

2m . Andrerseits gilt fur Ellipsen,dass F = πab. Daher erhalten wir

T 2

4m2‖ ~J‖2 = π2a4(1− ε2) = π2a3pη = π2a3 ‖ ~J‖2

γm2M.

Also

T 2 =4π2

γMa3.

Das ist das 3. Keplersche Gesetz.

89

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11.4 Die Herleitung der Warmeleitungsgleichung

Beispiel 89 (Warmeleitung und Diffusion).Verfahrentechnik I, Kapitel 2 oder Energie-, Impuls- und Stofftransport, Abschnitt 2.5

Wir betrachten einen kompakten Bereich B in einem (warmeisotropen) Medium und wol-len darin die Veranderung der Temperatur in Abhangigkeit von Ort und Zeit beschreiben.(Dasselbe Modell beschreibt auch Diffusionsprozesse.) Damit leiten wir die fruher betrach-tete Warmeleitungsgleichung her.Die Gesamtenergie U in B ergibt sich durch Integration der spezifischen inneren Energie umultipliziert mit der Dichte ρ:

U =∫∫∫B

ρ u dxdydz.

Die zeitliche Anderung dUdt der Gesamtenergie ist gleich dem gesamten Warmefluß durch die

Oberflache in B hinein, daher das Minuszeichen:

dU

dt=

d

dt

∫∫∫B

ρ u dxdydz =∫∫∫B

ρ∂u

∂tdxdydz = −

∫∫∂B

~q ~dO.

Mit dem Gaußschen Satz folgt∫∫∫B

ρ∂u

∂tdxdydz = −

∫∫∫B

div ~q dxdydz. (112)

Wahlt man B als Kugel vom Radius r um einen festen Punkt und betrachtet denGrenzubergang fur r → 0, so folgt daraus

ρ∂u

∂t= −div ~q. (113)

Nun ist die zeitliche Anderung der spezifischen Energie proportional zur Anderung der Tem-peratur θ

∂u

∂t= c

∂θ

∂t, c = spezifische Warmekapazitat,

und nach dem Fourierschen Gesetz ist der Warmefluß proportional zum Gradienten derTemperatur: Die Warme fließt in Richtung des steilsten Temperaturabfalls:

~q = −λ grad θ, λ = Warmeleitfahigkeit.

Einsetzen der beiden letzten Identitaten in (113) liefert wegen ∆ = div grad die Warme-leitungsgleichung, die wir mit D = λ

cρ schreiben als

∂θ

∂t= D∆θ. (114)

Diese Gleichung beschreibt also die raumzeitliche Anderung der Temperatur θ in einemwarmeleitenden homogenen und isotropen Medium.

90

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11.5 Ein nicht-lineares Randwertproblem: Der Eulersche Knick-stab

Bemerkung. Die Abbildungen in diesem Abschnitt wurden (bis auf die von Hand gezeichnete erste) mit

Mathematica erzeugt. Fur Hilfe dabei und bei den Jacobischen elliptischen Funktionen danke ich Ekkehard

Tjaden.

Als Beispiel fur ein nicht-lineares Randwertproblem untersuchen wir ein Standardproblemder klassischen Mechanik, ein Problem der Balkenbiegung, das etwas dramatisierend alsProblem der “Eulerschen Stabknickung” bezeichnet wird.

Gegeben sei ein vertikaler biegeelastischer Stab der LangeL, der vertikal mit der Kraft F belastet wird. Fuß und Spit-ze des Stabes sollen auf der Vertikalen und der Stab in einerEbene bleiben. Wir verwenden als unabhangige Variabledie vom Fuß aus gemesssene Bogenlange s auf dem Stabund bezeichnen mit y(s) die horizontale Auslenkung. Wei-ter sei ψ(s) der Steigungswinkel der Tangente an den Stab.Die Anderung dieses Winkels (oder die Krummung des Sta-bes) ist nach der Mechanik proportional zum BiegemomentM(s)

ψ′(s) = −cM(s),

wobei c = 1/EI eine von Material und Geometrie der Sta-bes bestimmte Konstante ist. EI heißt die Biegesteifigkeit.

y(s)

ψ(s)

F

F

σ

s x(s)

Das Biegemoment ist gegeben durch das Drehmoment, welches die Kraft F im jeweiligenPunkt des Stabes ausubt, also durch das Produkt der Sehne σ mit der dazu senkrechtenKomponente F⊥ der Kraft. Aus den beiden ahnlichen rechtwinkligen Dreiecken der Skizzeerhalten wir

F⊥

F=y(s)σ

.

Es folgtM(s) = F⊥σ = F y(s)

undψ′(s) = −cF y(s). (115)

Insbesondere ist nach Voraussetzung y(0) = y(L) = 0, also

ψ′(0) = 0, ψ′(L) = 0. (116)

Weil wir die Bogenlange verwenden, ist (x′(s), y′(s)) der Einheitsvektor in Richtung der Tan-gente, und daher ist y′(s) = sinψ(s). Zusammen mit den obigen physikalischen Beziehungenund der Abkurzung ω =

√cF folgt daraus die Biegegleichung

ψ′′(s) + ω2 sinψ(s) = 0. (117)

91

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Linearisierung. Fur kleine Werte von ψ ist sinψ ≈ ψ, und damit erhalten wir die Gleichung

ψ′′(s) + ω2ψ(s) = 0. (118)

Fur diese linearisierte Gleichung ist das Randwertproblem mit den Bedingungen (116) leichtzu losen, es ist ψ(s) = A cos(ωns) mit beliebigem (wegen der Approximationsvoraussetzungaber sehr kleinem) A und mit

ωn =nπ

L, n ∈ N. (119)

Also ist y(s) =∫ s0

sinψ(σ)dσ ≈∫ s0ψ(σ)dσ = A

ωnsin(ωns), und im Hinblick auf spatere

Untersuchungen schreiben wir das als

y(s) =A

ωncos(

π

2− nπ

Ls). (120)

Der kleinste positive Wert von ω, fur den eine nicht-triviale Losung des Eigenwertproblems existiert istalso π

L , und das entspricht einer Belastung mit derKraft

F =ω2

c= EI

π2

L2.

Das ist die sogenannte Eulersche Knicklast. Weite-re nichttriviale Losungen hat man dann fur F =EI n

2π2

L2 mit n ∈ N. Sie entsprechen einer sinusar-tigen Biegung des Stabes mit n “Bogen”.

F

n=1

F

n=2

Beachten Sie, dass s die Bogenlange auf dem Stab bezeichnet, nicht die Hohe auf der verti-kalen x-Achse, so dass die Stabkurve nicht einfach der Graph von (120) ist. Allerdings habenwir

x(s) =∫ s

0

x′(σ)dσ =∫ s

0

√1− y′(σ)2dσ ≈

∫ s

0

dσ = s.

Die nicht-lineare Gleichung. Die oben betrachtete Linearisierung hat wenig mit der Rea-litat zu tun, weil eben die Approximation sinψ ≈ ψ nur fur sehr kleine ψ-Werte brauchbarist und bei starkerer Verbiegung unsinnig wird. Dann muss man die nicht-lineare Gleichung(117) betrachten. Diese ist schon im 19. Jahrhundert sehr grundlich studiert worden, zumalsie gleichzeitig die Schwingung eines ebenen Pendels beschreibt (Gleichung des sogenanntenmathematischen Pendels).Wir mochten das Randwertproblem (116), (117) losen, betrachten aber zunachst einmal einAnfangswertproblem

ψ′′ + ω2 sinψ = 0,(121)

ψ(0) = α, ψ′(0) = 0.

Spater versuchen wir dann α so zu wahlen, dass ψ′(L) = 0 wird.

92

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Weil die Sinusfunktion stetig differenzierbar ist, ist (121) eindeutig losbar. Andererseits istdie Differentialgleichung nicht-linear, und deshalb hilft kein Exponentialansatz beim Losender Differentialgleichung und kein Superpositionsprinzip10 bei der Erfullung der Randbedin-gungen, man braucht andere Methoden. Diese liefern Losungen, die nicht durch elementareFunktionen ausgedruckt werden konnen, sondern man braucht sogenannte elliptische Funk-tionen. Wir beschreiben zunachst das Ergebnis. Fur 0 ≤ ω ≤ ω1, d.h. fur eine Belastungunterhalb der Eulerschen Knicklast, hat auch das nicht-lineare Problem nur die trivialeLosung, der Stab bleibt gerade. Fur ω > ω1 gibt es zunachst eine weitere Losung, dieder anschaulichen Vorstellung einer (annahernd sinusformigen) Verbiegung des Stabes ent-spricht. Bei wachsendem ω, also steigender Belastung wird die maximale Auslenkung ymaxdes Stabes immer großer.

(122)

Im letzteren Bild hat die Kraft das ehemals obere Stabende unter den Fußpunkt des Stabesgedruckt und zieht nun nach unten.Aber bei ω2 = 2π

L , dem 2. Eigenwert des linearisierten Problems, gibt es daneben eine(physikalisch instabile) weitere nicht-triviale Losung, die zunachst annahernd einer vollenSinusperiode entspricht, also zwei “Bauche” besitzt. Bei weiter steigender Belastung ver-großern sich auch die Bauche dieser Losung. Bei weiter wachsendem ω kommt bei jedem ωneine weitere nicht-triviale Losung mit einem weiteren Bauch hinzu.Hier sind jeweils zwei nicht-triviale Losungen bei gleicher

großer und sehr großer Belastung

n=1

n=2

n=1

n=2

Im nicht-linearen Fall hat man also im Gegensatz zum homogenen linearen Fall nicht diskreteEigenwerte mit jeweils einem Vektorraum von Eigenlosungen, sondern ein Kontinuum von“Spektralwerten” ω mit jeweils einer diskreten Zahl zugehoriger nicht-trivialer Losungen.

93

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Losung der nicht-linearen Gleichung. Der wesentliche Trick zur Losung ist die Multi-plikation mit ψ′:

0 = ψ′ψ′′ + ω2ψ′ sinψ =d

ds

(12

(ψ′)2 − ω2 cosψ).

Also hat man12

(ψ′)2 − ω2 cosψ = const.

Aus der Anfangsbedingung (121) folgt const = −ω2 cosψ(0) = −ω2 cosα und wir erhaltendie Differentialgleichung

12

(ψ′)2 = ω2(cosψ − cosα) = 2ω2

(sin2 α

2− sin2 ψ

2

). (123)

Separation der Variablen liefert

ψ′√sin2 α

2 − sin2 ψ2

= −2ω. (124)

Beim Wurzelziehen haben wir uns inspiriert von der Abbildung fur das Minuszeichen ent-schieden, aber das muss man im Augen behalten. Fur die Integration der linken Seite sub-stituieren wir eine neue Variable u fur ψ mit

sinu =sinψ/2sinα/2

.

Wir halten fest, dass dann sinu(0) = 1, also o.E. u(0) = π2 .

Dann wird ψ′ = 2 sin α2

cosucosψ/2u

′ und wir erhalten

−2ω =2 sin α

2cosu

cosψ/2u′√

sin2 α2 − sin2 α

2 sin2 u=

2u′

cos ψ2=

2u′√1− sin2 α

2 sin2 u= 2

d

dtF (k;u). (125)

Dabei ist k := sin α2 und

F (k;φ) :=∫ φ

0

dτ√1− k2 sin2 τ

das sogenannte elliptische Integral 1. Art, das mit den von der Schule bekannten elementarenFunktionen nicht losbar ist und darum eine neue Funktion darstellt. Das Semikolon sollandeuten, dass wir F nicht als Funktion von zwei Variablen k und φ interpretieren (wasnaturlich auch richtig ist), sondern als Funktion einer Variablen φ, wobei die Funktion nochvon einem Parameter k abhangt, so dass wir eigentlich uber eine Familie von Funktionenreden.Diese Funktionen kann man als Beginn einer wunderbaren Reihe neuer Funktionen, derelliptischen Funktionen, auffassen, die sich samtlich mit einfachsten Methoden der Analysis Ierklaren lassen. Hier stellen wir zusammen, was wir daruber fur das Eulersche Knickstab-Problem wissen mussen.

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Intermezzo: Die elliptischen Funktionen von Jacobi.

Der Integrand von

F (k; φ) :=

Z φ

0

dτp1− k2 sin2 τ

(126)

ist π-periodisch und zu π2

symmetrisch. Man nennt deshalb

K(k) := F (k;π

2) =

Z π2

0

dτp1− k2 sin2 τ

(127)

das vollstandige elliptische Integral 1. Art. Damit folgt

F (k; φ + π) = F (k; φ) + 2K(k). (128)

Offenbar ist die Funktion K monoton steigend, und mit Hilfe vonZ b

0

dτp1− sin2 τ

= 2 tanh−1(tanb

2), 0 < b < 1,

beweist man limk↗1 K(k) = +∞.Weiter ist F in φ monton wachsend und besitzt eine Umkehrfunktion, die sogenannte Jacobische Amplitudeam(k; t):

am(k; F (k, φ)) = φ. (129)

Aus der Periodizitat (128) folgtam(k; t + 2K(k)) = am(k; t) + π (130)

und insbesondere am(k; nK(k)) = n π2.

Die Jacobischen Kosinus- bzw. Sinusfunktionen werden definiert durch

cn(k; t) := cos am(k; t), sn(k; t) := sin am(k; t). (131)

Weil F (0; φ) = φ und deshalb am(k; t) = t ist, ist

cn(0; t) = cos t, sn(0; t) = sin t.

Die Jacobischen Funktionen sind also Verallgemeinerungen des ublichen Kosinus und Sinus. Dabeiubernimmt K(k) die Rolle von π

2= K(0). Die Funktionen sind nach (130) periodisch mit der Periode

4K(k) und haben Nullstellen bei nK(k) fur ungerades bzw. gerades n ∈ Z.Schließlich konnen Sie mit der Formel fur die Ableitung einer Umkehrfunktion aus der Analysis I leichtnachrechnen, dass

sn′(k; t) = cn(k; t)q

1− k2 sn2(k; t), cn′(k; t) = − sn(k; t)q

1− k2 sn2(k; t). (132)

Die Graphen von zwei der Jacobischen Kosinusfunktionen geben ein anschauliches Bild:

-5 -2.5 2.5 5 7.5 10

-1

1 cnH0.2;xLcnH0.98;xL

KH0.2LKH0.98L

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Zuruck zu unserem mechanischen Problem. Aus (125) erhalten wir

F (k;u(s)) = F (k;u(0))− ωs = K(k)− ωs,

damitu(s) = am(k;K(k)− ωs)

und schließlich

ψ(s) = 2 arcsin(k sinu) = 2 arcsin (k sn(k;K(k)− ωs)) . (133)

Mit (132) verifiziert man, dass das wirklich die Differentialgleichung lost, und damit istauch das Vorzeichenproblem in (124) erledigt. Die Funktion (133) ist also die Losung desAnfangswertproblems

ψ′′ + ω2ψ = 0, ψ(0) = α, ψ′(0) = 0 (134)

mit k := sin α2 .

Randwert adjustieren. Fur gegebenes L und hinreichend großes ω mussen wir nun einoder mehrere nicht-triviale k bzw. α finden, so dass ψ′(L) = 0 wird, vgl. (116). Nach (123)ist

(ψ′(L))2 = 4ω2(k2 − sin2 ψ(L)2

)

= 4ω2(k2 − k2 sin2 am(k;K(k)− ωL)

)= 4ω2k2 cos2 am(k;K(k)− ωL)

= 4ω2k2 cn2(k;ωL−K(k)) (cn ist eine gerade Funktion).

Die Nullstellen von cn(k; s) waren aber die ungeraden Vielfachen von K(k), und deshalbsind unsere Randbedingungen erfullt fur

ωL−K(k) = L√cF −K(k) = (2n− 1)K(k), n ∈ Z,

oder

K(k) =L√cF

2n. (135)

Wir haben festgestellt, dass K : [0, 1[→ [π2 ,+∞[ bijektiv ist. Deshalb gibt es fur (135) unddamit fur unser Randwertproblem so viele nicht-triviale Losungen, wie es positive ganzeZahlen n gibt, fur die

π

2<L√cF

2n

ist. Wie im linearen Fall sind also die Belastungen mit√cF = ω = nπ

L , die sogenanntenVerzweigungswerte von besonderer Bedeutung, aber anders als dort hat man jetzt fur alleWerte von

√cF > nπ

L eine Familie von n nicht-trivialen Losungen

ψj(s) = 2 arcsin(kj sn

(kj ;K(kj)− s

√cF))

charakterisiert durch K(kj) = L√cF

2j mit 1 ≤ j ≤ n.

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Bisher haben wir nur den Tangentenwinkel ψ berechnet. Um ein Bild der tatsachlichenGestalt zu bekommen, mussen wir x(s), y(s) bestimmen. Aus (115) und (124) ergibt sich

y(s) = − 1cF

ψ′(s) =2√cF

√k2 − k2 sn2(k;K(k)− ωs)

=2k√cF

cn(k;K(k)− ωs).

(Bemerkung: Hier haben wir wieder das alte Problem mit dem Vorzeichen der Wurzel. DieBerechnung von y(s) durch Integration von y′(s) = sinψ(s) vermeidet das und liefert das-selbe Ergebnis.) Daran sieht man insbesondere, dass die j-te Losung kosinusformig schwingtund j “Bauche” hat.Die Berechnung von x(s) durch Integration von x′(s) = cosψ(s) ist etwas komplizierter. Sieerfordert ein weiteres elliptisches Integral, das Integral E(k;φ) von 2. Art, auf das ich hieraber nicht mehr eingehen will, und liefert

x(s) =2ω

(E(k; am(k;ωs−K(k)))− 1

2ωs+ E(k,

π

2)).

Fur k = 0 ist x(s) = s, und fur kleine Werte von k ist x(s) monoton wachsend. Das gilt abernicht mehr fur k-Werte nahe bei 1, und dann wir x(s) rucklaufig wie in den beiden letztenFiguren der Abbildung (122).Hier sind die Graphen fur zwei Werte von k:

1 2 3 4 5

-1

1 k=0.6

k=0.93

Mit dieser (x, y)-Parametrisierung bekommt man die oben abgebildeten und beschriebenenVerbiegungen des Stabes.

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11.6 Der Verlauf der Zylinderfunktionen

Wir wollen nun Informationen uber den Funktionsverlauf der Losungen von (90) sammeln.Dazu vergleicht man die Besselgleichung mit einer Differentialgleichung, die man gut kennt,namlich mit der Sinusgleichung

y′′ + ω2y = 0. (136)

Wir benutzen – ohne das im Detail auszufuhren – dass sich die Losungen ahnlicher Dif-ferentialgleichungen ahnlich verhalten. Zunachst ist allerdings zwischen (90) und (136) garkeine Ahnlichkeit festzustellen. Wir mussen zunachst die Besselgleichung noch ein wenigumformulieren.

Wir betrachten den Bereich x > 0. Wir nehmen an, dass y eine Losung der Bes-

selgleichung zum Index λ ist, nehmen eine Funktion m > 0, uber die wir gleich nochverfugen werden, und schreiben y(x) = m(x)v(x). Wir setzen das in (90) ein und er-halten nach kurzer Rechnung

x2mv′′ + (2x2m′ + xm)v′ +`x2m′′ + xm′ + (x2 − λ2)m

´v = 0. (137)

Wir wahlen nun m so, dass der Faktor von v′ verschwindet, also so, dass 2x2m′+xm = 0.Das ist eine Differentialgleichung fur m die man auch schreiben kann als m′

m= − 1

2x.

Nun ist m′

m= (ln m)′ und − 1

2x= − (ln

√x)′. Also ist m(x) =

q1x

eine Losung, bis

auf eine multiplikative Konstante auch die einzige. Einsetzen in (137) und teilen durchx2m(x) liefert

v′′ +

„1− λ2 − 1/4

x2

«v = 0. (138)

Ist v eine Losung von (138), so ist y(x) = v(x)√x

eine solche von (90) und umgekehrt.

Das vorstehende Verfahren kann man auf jede homogene lineare Differenti-algleichung 2. Ordnung anwenden. Man erhalt eine Gleichung (138) von derForm

v′′ + B(x)v = 0.

Die Funktion B ist eine charakteristische Invariante fur den Typ der Differen-tialgleichung. Erhalt man fur verschiedene Differentialgleichungen dasselbeB, so lassen sich ihre Losungen durch einen festen multiplikativen Faktorineinander umrechnen.

Die Gleichung (138) ist also aquivalent zur Besselgleichung, und sie sieht der Sinus-gleichung (136) wirklich sehr ahnlich. Der Sturmsche Vergleichssatz besagt, dass sich

die Losungen von (138) fur großes x, wenn also“1− λ2−1/4

x2

”≈ 1 ist, so verhalten, wie

die Losungen von (136) mit ω = 1− ε fur sehr kleines positives ε. Diese Losungen sindaber sin ω(t− t0).

Wir erinnern daran, dass y(x) = 1√xv(x) die Losungen der Besselgleichung sind und fassen

das asymptotische Verhalten (d.h. das Verhalten fur große x) so zusammen:

Die Zylinderfunktionen verhalten sich asymptotisch wie eine Sinusfunktionmit Phase und einer wie 1√

xgedampften Amplitude.

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Man kann das noch prazisieren, wenn man die Zylinderfunktion prazisiert. Fur die Bes-

selfunktionen ergibt sich

Jλ(x) ∼√

2πx

sin(x− π

2λ+

π

4).

Das Mathematica-Programm hat die Besselfunktionen ”vorratig“. Mit

In[1]:=Plot[{BesselJ[0,x],BesselJ[1,x],BesselJ[2,x]},{x,0,10}]

erhalt man

5 10 15 20

-0.4

-0.2

0.2

0.4

0.6

0.8

1

J02J

2 π x√________√

__

99

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11.7 Die allgemeine Losung der Besselgleichung

Da die Besselgleichung (90) von zweiter Ordnung ist, braucht man fur die allgemeine Losungein Fundamentalsystem mit zwei linear unabhangigen Losungen. Wir beschreiben nun, wieman eine zweite, von Jλ linear unabhangige Losung finden kann.

Dazu untersuchen wir zunachst das Verhalten der Besselfunktionen fur x ↘ 0. Aus derReihenentwicklung

Jλ(x) =(x

2

)λ( 1Γ(m+ 1)Γ(m+ λ+ 1)

− . . .

)sieht man

limx→0

Jλ(x) =

0 fur λ > 01 fur λ = 0±∞ fur λ < 0, nicht ganzzahlig.

(139)

Ist λ nicht ganzzahlig, so sind Jλ und J−λ zwei Losungen derselben Gleichung (90), diewegen (139) ganz offensichtlich linear unabhangig sind. Damit ware das Problem erledigt,wenn man nicht gerade an ganzzahligem λ besonders interessiert ware. In diesem Fall sindaber Jλ und J−λ = (−1)λJλ linear abhangig, und man muß sich etwas anderes einfallenlassen.

Sind nun a, b ∈ R mit b 6= 0, so sind fur λ /∈ Z auch Jλ und

aJλ + bJ−λ

linear unabhangig. Zum Beispiel kann man folgende skurrile Koeffizientenwahl treffen:

a := cot(λπ), b := − 1sin(λπ)

. (140)

Dann ist

Jλ und Nλ :=cos(λπ)Jλ(x)− J−λ(x)

sin(λπ)

ein Fundamentalsystem von (90).

Die Nλ heißen die Neumannfunktionen oder Besselfunktionen 2. Art. Sie werden auch mitdem Symbol

Yλ(x) = Nλ(x)

bezeichnet.

Der Grund fur die merkwurdige Wahl der Koeffizienten in (140) ist nun, dass fur ganzzahligesk der Grenzwert

limλ→k

Nλ(x)

existiert und Jk, Nk auch dann noch ein Fundamentalsystem bilden. Wir verdeutlichen dasan einem einfachen Beispiel, welches allerdings nichts mit den Besselfunktionen zu tun hat:

Beispiel 90. Die Differentialgleichung

y′′ − 2y + (1− λ2)y = 0

100

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hat die charakteristische Gleichung

µ2 − 2µ+ (1− λ2) = 0

mit den Nullstellenµ1,2 = 1± λ.

Sie hat daher fur λ 6= 0 eine Losungsbasis

y1(x) = e(1+λ)x; y2(x) = e(1−λ)x.

Fur λ > 0 konnen wir stattdessen aber auch die Losungsbasis

y1(x) = e(1+λ)x,

y2(x) =1

2λe(1+λ)x − 1

2λe(1−λ)x

= exeλx − e−λx

2λ= ex

sinhλxλ

verwenden.

Geht λ gegen 0, so rucken die beiden Nullstellen zusammen gegen eine doppelte Nullstelleµ1,2 = 1. Die Losung y1(x) geht offensichtlich gegen ex. Nach der Regel von de l’Hospitalist aber

limλ→0

sinhλxλ

= limλ→0

x coshλx1

= x,

und daher geht die zweite Losung gegen xex.

Die nebenstehende Abbildungzeigt die Graphen von xex undy2(x) fur λ = 0.5.

-5 -4 -3 -2 -1 1

-0.4

-0.2

0.2

0.4

Wegen der Singularitat in 0 sind die Neumannschen Funktionen in den Anwendungen weitseltener als die Besselschen. Ihre Graphen sehen so aus:

5 10 15 20

-1

-0.5

0.5

1

N0N1

N2

2 π x√________√

__

101

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11.8 Die erzeugende Funktion der ganzzahligen Besselfunktionen

Wir betrachten die vereinfachte Wellengleichung

∂2u

∂x2+∂2u

∂y2=∂2u

∂t2. (141)

Sie hat beschrankte Losungen

uk(ρ, φ, t) = Jk(ρω)ei(kφ+ωt),

vgl. Abschnitt 8.5. Das k muß ganzzahlig sein, damit die Losung uk in der Winkelkoordinateφ die Periode 2π bekommt. Nach der allgemeinen Theorie kann man jede Losung von (141)durch Superposition (=Linearkombination) ”separierter“ Losungen erhalten, also auch dieEbene-Wellen-Losung mit harmonischem Profil:

uE(x, y, t) = ei(y+t) = ei(ρ sinφ+t).

Das ist vielleicht doch uberraschend, weil die Ebene-Wellen-Losung von ganz anderer Gestaltzu sein scheint, als die ”Polarkoordinaten-Losungen“. Offenbar muß ω = 1 sein. Wir erwartenalso eine Darstellung der Form

eiρ sinφeit =∞∑

k=−∞

ckJk(ρ)eikφeit.

Zu bestimmen sind die ck. Den Faktor eit kann man kurzen. Dann ergibt sich das Problem,fur festes ρ die 2π-periodische Funktion eiρ sinφ in eine komplexe Fourierreihe zu entwickeln.Das machen wir allerdings nicht mit der Formel fur die Fourierkoeffizienten, sondern wirbenutzen unsere Kenntnis der Exponentialreihe. Wir setzen eiφ = z. Dann ist i sinφ =12 (z − z) = 1

2 (z − 1z ) und

eiρ sinφ = eρ2 ze−

ρ2

1z =

∞∑m=0

(ρ2 )m

m!zm

∞∑n=0

(−1)n(ρ2 )n

n!z−n

=∞∑

k=−∞

∑m − n = km, n ≥ 0

(−1)n(ρ2 )m+n

m!n!

zk

=∞∑

k=−∞

( ∞∑n=0

(−1)n

(n+ k)!n!(ρ

2)2n(

ρ

2)k)

︸ ︷︷ ︸=Jk(ρ)

zk (142)

=∞∑

k=−∞

Jk(ρ)eikφ. (143)

(Auf der rechten Seite von (142) darf die Summe uber n eigentlich erst bei min(−k, 0) beginnen,

weil m = n + k positiv sein muß. Aber wir interpretieren 1(n+k)!

= 1Γ(n+k+1)

= 0, falls n + k < 0.

Genauso hatten wir fruher die Jk fur negatives k definiert.)

Uberraschenderweise sind also die ck = 1 fur alle k, und wir erhalten

ei(y+t) = eit∞∑

k=−∞

Jk(ρ)eikφ. (144)

Man nennt die Funktion eρ2 (z− 1

z ) = eiρ sinφ, deren Potenzreihe die Besselfunktionen als Ko-effizienten hat, auch die erzeugende Funktion fur die ganzzahligen Besselfunktionen und die

102

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ganzzahligen Funktionen Besselkoeffizienten. Die nachstehende Bilder geben den Graphenvon Partialsummen der rechten Seite (mit t = 0) wieder, einmal in Draufsicht mit ”Clip-ping“, wie im Abschnitt 8.5, und einmal in einer schragen Ansicht.

Wir haben die Formel (144) aus zwei Grunden hergeleitet:

• Sie ist ein schones Beispiel fur die Gewinnung spezieller Losungen durch Linearkom-bination von mit Separationsansatz gewonnenen ”Fundamentallosungen“.

• Aus der Formel (144) lassen sich sehr einfach wichtige Beziehungen zwischen den ganz-zahligen Besselfunktionen gewinnen. Das machen wir nun vor.

Wir differenzieren

eρ2 (x− 1

x ) =∞∑

k=−∞

Jk(ρ)xk (145)

nach ρ und erhalten

∞∑k=−∞

J ′k(ρ)xk =12

(x− 1x

)eρ2 (x− 1

x ) =12x

∞∑k=−∞

Jk(ρ)xk − 12x

∞∑k=−∞

Jk(ρ)xk

=∞∑

k=−∞

12Jk(ρ)xk+1 −

∞∑k=−∞

12Jk(ρ)xk−1 =

∞∑k=−∞

12

(Jk−1(ρ)− Jk+1)xk.

Durch Koeffizientenvergleich folgt

2J ′k = Jk−1 − Jk+1. (146)

Differentiation nach x liefert mit einer ahnlichen Rechnung

2kρJk(ρ) = Jk+1(ρ) + Jk−1(ρ). (147)

Aus beiden Gleichungen zusammen ergibt sich nach kurzer Rechnung

d

dρ(ρkJk(ρ)) = ρkJk−1(ρ). (148)

Zahlreiche weitere Identitaten fur die Bessel- und Zylinderfunktionen finden Sie in der Lite-ratur, zum Beispiel in dem ausgezeichneten Buch ”An Atlas of Functions“ von Spanier undOldham, Springer Verlag, oder in Buchern zum Thema ”Spezielle Funktionen (der mathe-matischen Physik)“.

103

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11.9 Die Legendresche Differentialgleichung

Die Separation der Potentialgleichung

∆u = 0

in Kugelkoordinaten liefert Losungen der Form

u(r, θ, φ) = rky(cos θ)e±imφ,

wenn y eine Losung der allgemeinen oder zugeordneten (assoziierten) Legendreschen Diffe-rentialgleichung

(x2 − 1)y′′ + 2xy′ +(

m2

1− x2− k(k + 1)

)y = 0 (149)

ist. Vergleichen Sie dazu den Abschnitt 8.5 und rechnen Sie das nach. Man kann zeigen, dassdie Separationskonstanten m und k naturliche Zahlen mit m ≤ k sein mussen, wenn dieLosungen im Raum wohldefiniert und singularitatenfrei sein sollen. Ganz ahnlich bekommtman Losungen der Wellengleichung oder der Warmeleitungsgleichung in Kugelkoor-dinaten, vgl. Abschnitt 8.5.

Fur m = 0 erhalt man Losungen, die unabhangig von φ, also rotationssymmetrisch um diez-Achse sind. Das ist physikalisch betrachtet ein sehr spezieller Fall, der aber mathema-tisch von besonderer Wichtigkeit ist. Aus den Losungen der sehr viel einfacheren m = 0-Legendregleichung, der Legendregleichung im engeren Sinne

(x2 − 1)y′′ + 2xy′ − k(k + 1)y = 0 (150)

erhalt man namlich auch die Losungen der Gleichung (149), die sogenannten zugeordnetenLegendrefunktionen durch eine sehr einfache Formel. Wir gehen darauf aber nicht ein. ImGegensatz zur Besselgleichung liefert hier ein reiner Potenzreihenansatz Losungen, die beigeeigneten Anfangswerten sogar Polynome sind. Wir benutzen im folgenden aber eine andereMethode, die vielleicht weniger motiviert ist, dafur aber den Rechenaufwand stark reduziert.Wir werden namlich rekursiv aus Losungen der k-ten Legendregleichung solche der k+1-tenmachen.

Wir schreiben (150) in der Form

((x2 − 1)y′)′ = k(k + 1)y. (151)

Beispiel 91 (Der Fall k = 0). Die konstante Funktion

y(x) = P0(x) := 1 (152)

ist offenbar eine Losung fur k = 0, weil dann y′ = 0 ist. Die homogene lineare Gleichunghat aber noch eine davon unabhangige Losung. Mit der Kettenregel zeigt man leicht, dassddx ln

√1+x1−x = 1

1−x2 auf dem Intervall ]− 1,+1[. Daher ist auch

y(x) = Q0(x) = ln

√1 + x

1− x(153)

eine offenbar von P0 linear unabhangige Losung auf dem Intervall ]− 1,+1[.

104

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11.9.1 Konstruktion von Losungen fur k > 0 durch Rekursion.

Es gelte((x2 − 1)y′k)′ = k(k + 1)yk. (154)

Definiere

yk+1 :=x2 − 1k + 1

y′k + xyk. (155)

Dann folgt

y′k+1 =1

k + 1k(k + 1)yk + yk + xy′k = (k + 1)yk + xy′k (156)

und damit

((x2 − 1)y′k+1)′ = (k + 1)2xyk + (k + 1)(x2 − 1)y′k + (x2 − 1)y′k + x((x2 − 1)y′k)′

= (k + 2)(x2 − 1)y′k + (k + 1)(k + 2)xyk

= (k + 1)(k + 2)(x2 − 1k + 1

y′k + xyk

)= (k + 1)(k + 2)yk+1.

Also lost yk+1 die “nachste” Legendregleichung. Ausgehend von einer Losung fur k = 0,etwa einer der oben gefundenen, erhalt man so rekursiv Losungen fur jedes k. Es ist nichtschwer zu zeigen, dass diese Losungen nicht-tirvial sind, wenn man mit einer nicht-trivialenbeginnt.

Eine andere Formulierung fur die Rekursion. Elimination der Ableitungen aus (156)mittels (155) liefert

k + 2x2 − 1

(yk+2 − xyk+1) = (k + 1)yk + xk + 1x2 − 1

(yk+1 − xyk)

und daraus(k + 2)yk+2 = (2k + 3)xyk+1 − (k + 1)yk

oder(k + 1)yk+1 = (2k + 1)xyk − kyk−1. (157)

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11.9.2 Die Legendrepolynome oder Legendrefunktionen 1. Art

Diese sind definiert durch die sogenannte Formel von Rodrigues

Pk(x) =1

2kk!Dk(x2 − 1)k, (158)

wobei Dk = dk

dxk gesetzt ist. P0 = 1 haben wir oben schon kennengelernt. Pk ist ein Polynomvom Grad k und je nach der Paritat von k gerade oder ungerade.

Wir zeigen jetzt, dass die Pk die Rekursion (155) erfullen, also Losungen der Legendreglei-chungen liefern. Dafur mussen wir zeigen, dass

12k+1(k + 1)!

Dk+1(x2 − 1)k+1 =x2 − 1k + 1

12kk!

Dk+1(x2 − 1)k + x1

2kk!Dk(x2 − 1)k

oder12Dk+1(x2 − 1)k+1 = (x2 − 1)Dk+1(x2 − 1)k + (k + 1)xDk(x2 − 1)k. (159)

Nun ist einerseits

Dk+1(x2 − 1)k+1 = Dk+1((x2 − 1)(x2 − 1)k)

= (x2 − 1)Dk+1(x2 − 1)k + (k + 1)2xDk(x2 − 1)k

+(k + 1

2

)2Dk−1(x2 − 1)k

und andrerseits

Dk+1(x2 − 1)k+1 = Dk(2x(k + 1)(x2 − 1)k)

= 2(k + 1)xDk(x2 − 1)k + 2k(k + 1)Dk−1(x2 − 1)k.

Subtrahiert man die Halfte dieser Gleichung von der vorangehenden, so erhalt man (159).

Damit erfullen die Legendrepolynome die Rekursion, also ist das Polynom Pk eine Losungder k-ten Legendregleichung. Diese Losungen bekommt man also, wenn man die Rekursionmit y0 = P0 = 1 startet.

Beispiel 92. Mit den Rekursionsformeln berechnet man

P0(x) = 1P1(x) = x

P2(x) =12

(3x2 − 1)

P3(x) =12

(5x3 − 3x)

P4(x) =18

(35x4 − 30x2 + 3).

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11.9.3 Funktionsverlauf der Legendrefunktionen

Aus der Rodriguesformel (158) sieht man, dass Pk fur gerades k gerade und fur ungeradesk ungerade ist.

Pk(−x) = (−1)kPk(x). (160)

Insbesondere ist

P2m+1(0) = 0. (161)

Aus (155) folgt

Pk+1(1) = Pk(1) = . . . = P0(1) = 1,

also

Pk(1) = 1, Pk(−1) = (−1)k. (162)

Weiter gilt

Pk hat im Intervall ]− 1,+1[ genau k verschiedene Nullstellen.Die Nullstellen von Pk und Pk+1 trennen sich gegenseitig.

Mathematica-Plots der Funktionsverlaufe von Pk und Qk sehen so aus:

Plot[{LegendreP[0,x],LegendreP[1,x], LegendreP[2,x],LegendreP[3,x],LegendreP[4,x] },{x,-1,1}]

-1 -0.5 0.5 1

-1

-0.5

0.5

1k=0

k=1

k=3k=4

k=2

Das Bild suggeriert|Pk(x)| ≤ 1,

und das kann man wirklich fur alle k beweisen-

107

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11.9.4 Entwicklung nach Legendrepolynome

Fur die Entwicklung nach Legendrefunktionen sind die Orthogonalitatsrelationen wichtig.Es gilt ∫ +1

−1

Pk(x)Pl(x)dx =

{2

2k+1 fur k = l,

0 sonst.

Das beweist man wie im Abschnitt 10.1.2. Durch Substitution x = cos θ erhalt man eineVersion, die zur Verwendung mit Kugelkoordinaten handlicher ist:

∫ π

0

Pk(cos θ)Pl(cos θ) sin θdθ =

{2

2k+1 fur k = l,

0 sonst.

Beispiel 93. Wir haben zu Beginn des Abschnitts uber die Legendregleichung gesehen,dass die Funktionen rkPk(cos θ) bezuglich der z-Achse rotatiossymmetrische Losungen derPotentialgleichung ∆u = 0 sind. Dann sind aber auch Linearkombinationen der Form

u(r, θ) =∞∑k=0

akPk(cos θ)rk

Losungen dieser Gleichung.

Will man Randbedingungen u(R, θ) = uR(θ) auf der Kugel vom Radius R vorgeben, so mussman also eine Entwicklung

uR(θ) =∞∑k=0

akRkPk(cos θ)

finden. Fur ”anstandige“ (zum Beispiel stetig differenzierbare) Funktionen uR : [−1, 1] → Rist das moglich, und die Koeffizienten lassen sich aufgrund der Orthogonalitatsrelationeneinfach bestimmen:

ak =2k + 12Rk

∫ π

0

u0(θ)Pk(cos θ) sin θdθ.

11.10 Die Γ-Funktion

Fur x > 0 definieren wir

Γ(x) :=∫ ∞

0

e−ttx−1dt.

Weil die Exponentialfunktion schnell fallt, existiert das uneigentliche Integral von 1 bis ∞.Weil

∫ 1

0tαdt fur α > −1 existiert, existiert auch

∫ 1

0e−ttx−1dt. Also ist Γ(x) wirklich fur alle

x > 0 definiert.

Zum Beispiel ist Γ(1) =∫∞0e−tdt = 1. Durch partielle Integration erhalt man∫e−ttxdt = −e−ttx + x

∫e−ttx−1dt.

Fur t↘ 0 und t→∞ verschwindet der erste Term rechts, also folgt

Γ(x+ 1) = xΓ(x).

108

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Das ist ein verbluffendes Ergebnis:

Γ(n+ 1) = nΓ(n) = n(n− 1)Γ(n− 1) = . . . = n! Γ(1) = n!.

Die Gammafunktion extrapoliert also die fur naturliche Zahlen definierte Fakultat n!. Furnegative, nicht-ganze Zahlen setzt man Γ so fort, dass die Funktionalgleichung

Γ(x+ 1) = xΓ(x)

erhalten bleibt, also etwa Γ(− 14 ) = (− 1

4 )−1Γ(− 14 + 1).

Mit Plot[Gamma[x],{x,-3,4},PlotRange->{-6,6}] liefert Mathematica:

-3 -2 -1 1 2 3 4

-4

-2

2

4

109